Aus den alten, frühen Tagen,
wer mich gut und lange kennt,
kann von mir so manches sagen,
sieht mich an, als Dissident.

Ja, ich seh’ mich selber so,
darum will ich hier erzählen:
Schlechtes machte mich nicht froh,
es zu ändern, war mein Quälen.

Dies Bemühen mich nicht zierte,
doch wie mich gab’s viele Hände.
Dieser Kampf zu einem führte,
denn es kam die große Wende.

Dissident bin ich geblieben,
obwohl alles anders ist.
Weil die Lasten sich verschieben,
man viel andres nun vermisst.

Wo ich hoffnungsvoll geführt,
gegen Schlechtes meinen Krieg,
steht heut Böses ungeniert,
glaube nicht mehr an den Sieg.

Es ist nicht einfach, eine neue Welt übergestülpt zu bekommen. Werte verschwinden und werden durch andere, nicht nur gefällige ersetzt. Menschen verlieren sich und ihre Bindungen. Plötzlich soll alles messbar sein und Werte werden auf Messbares reduziert. Meine Kirche hat mich verlassen, Freunde verstreuten sich.
Hände wurden zu Ellenbogen, abgepolstert durch einigen Wohlstand.
Ich hatte Frust und Unverständnis aber nie Hass, den habe ich später gelernt. Ich müsste jedes Wort bedenken, bevor ich es aussprach, heute kann ich zwar alles sagen, doch dafür interessiert sich keine mehr.
Es gibt immer und überall Grenzen. Sie zu übertreten, bringt Probleme. Damals waren die Grenzen hart aber sichtbar und bekannt. Heute merke ich nur an der Wirkung, wo eine Grenze war. Der angebliche Versuch sei gescheitert! Für mich war es zu keiner Zeit ein Versuch, obwohl einige positiven Dinge dies hätten vermuten lassen. Es ging dabei auch nur um Macht, die Macht der Besatzer und deren, die ihr dienten. Wo ist der Unterschied? Damals durfte der Bürger nicht reich werden, heute dürfen sie es, aber wer kann es schon?
Es gab schlimme Einzelschicksale! Es gab Tote an der Grenze. Es gab (fast) keine Drogentoten u.a.m.
Wer urteilen will, muss alles bewerten, doch das kann keiner. Die Schulden der DDR betrugen 1986 46,5 Mrd. Vatuta-Mark. Heute betragen sie etwa 10 Brd Euro.
Wo liegt die Wahrheit?

lieber Ullrich
Du fragst, wo liegt die Wahrheit? Ich habe einmal gelernt, die Wahrheit ist immer konkret. Es gibt nicht nur eine Wahrheit. Sie muss immer in Betracht zur Situation des Einzelnen gestellt werden. Wir können nur aus der Geschichte lernen. Und ich denke, viele haben daraus gelernt.
Wenn Du aber aufgehört hast, an den Sieg über das Böse zu glauben ... dann ist es sehr schade. Denn ohne diesen Glauben an die Befreiung des Menschen vom "Böse" gibt es keinen Fortschritt.
Erinnere Dich an das Kerzenmeer,erinnere Dich an das Meer der Menschen auf der Straße. Sie haben ihre Stimme erhoben für die Abschaffung der Mauer, für ihre Freiheit.
Sie haben einen großen Sieg errungen. Klar wollten sie mehr, klar wollten sie teilhaben an allem was sie sich erträumten. Viele haben es nicht geschafft, aber unsere Kinder und Kindeskinder werden Stolz sagen können, unsere Generation hat eine Revolution ohne Blutvergießen gewonnen.
Sei Stolz darauf, Du warst dabei.

herzlich Ilona

Lieber Ulrich,
dein Gedicht und der Nachsatz sind in ihrer Aussage erschütternd. Sprachlich, bei dir höchst ungewöhnlich, sind die Verse durch die vielen Inversionen nicht besonders gut gelungen. Vielleicht magst du noch mal drüber schauen?
Herzliche Grüße,
Heliane.

Liebe Ilona,

du kennst meine Meinung zur Wende und ihren Folgen.
Neulich hörte ich eine ganz andere Meinung (die eines ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers), die mich sehr nachdenklich stimmte:
Das Gespräch ging allgemein um Revolutionen, die mit und ohne Blutvergießen endeten. Die Veränderungen in der DDR seien nur ohne Opfer gelungen, weil die Demonstranten feige waren – Folge der jahrelangen Unterdrückung durch den Staat. Kein Kirchenmann, kein Bürgerrechtler und kein Mitläufer könne stolz auf den unblutigen Ausgang sein. Eine Handvoll „Mutiger“ oder charismatischer „Führer“ hätte ohne Probleme jederzeit das Ruder herum reißen können. Die Gier nach „Luxus“ sei die Antriebsfeder gewesen, nicht der Wunsch nach Einheit. Allein aus diesem Grund sei es nicht zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen. Die Staatsoberhäupter wurden zunächst überrumpelt und waren wie gelähmt. Hätte auch nur einer zur Flüstertüte gegriffen und seine „Autorität“ heraus hängen lassen, wären die Demonstranten wie eine Schafherde nach Hause gegangen.
Kerzen und friedliche Zusammenkünfte auf Straßen, Plätzen und in Kirchen zeigten nur, wie schwach und verängstigt die Menschen waren; eine Faust, ein falsches Wort und die Situation wäre umgekippt.

Ich muss gestehen, auch solche Überlegungen sind interessant und nachdenkenswert. Sie werden meine Meinung nicht ändern aber ich befürchte, es sind keine Einzelmeinungen.
Herzliche Grüße,
Heliane.

Liebe Ilona,
danke, dass Du diesen Beitrag ausgegraben hast. Ich lebe mit dieser Thematik ambivalent. Ich vermisse vieles, was es damals gab, vor allem das Menschliche.
Wer zur Wende nicht mindestens 20 Jahre alt war, kann das nicht mitfühlen. Das Leben war schwieriger und leichter, es war ärmer und reicher, ich war gegängelt und doch freier.
Ich habe gutes Schwarzbrot durch Marzipan ersetzt bekommen. Das mag vielen gefallen, doch verträgt es nicht jeder auf Dauer. Es macht fett und müde und krank. Ich vermute, dass dir diese Metapher nicht sehr eingängig ist.
Du sagst, es gibt mehrere Wahrheiten – eben!!! Wie kann dann aber eine Wahrheit korrekt sein?
Das geht höchstens bei einer Dimension. Das Leben/die Welt hat aber mehrere Dimensionen.
Vermissen kann man nur, was man kennt. Jeder Schilderung ist unzureichend.
Das Thema wird immer einseitig dargestellt, damals wie heute. Wir und das Unsere ist immer das Gute! Die Wahrheit ist oft das Gegenteil aber immer etwas anderes.
Ich wollte eine grundlegende Änderung, darum war ich auf der Straße. Das, was ich bekam, war etwas anderes! Die Welt ist nicht schwarz oder weiß!
Ich könnte 30 Bücher darüber füllen und hätte niemals alles gesagt.
LG Ulrich

Liebe Heliane,
die Meinung dieses Bürgerrechtlers kann ich nicht ganz entkräften. Es steckt viel Wahres darin. Eine Revolution war es in meinem Verständnis auch nicht. Der DDR-Führung fehlte der gewohnte Rückenhalt durch die UdSSR. Sie hatten es verlernt zu herrschen oder vielleicht nie gelernt. Sie haben im Auftrag verwaltet, darum waren sie mit der Situation überfordert. Es fehlten die Befehle aus Moskau. Selber war ihnen das sicher nie bewusst. Wer will es schon wahrhaben, wenn er und sein Denken beherrscht wird?
Niemand macht eine Revolution, der etwas zu verlieren hat. Die Bevölkerung war zutiefst pazifistisch und ist es immer noch. Bei keiner der mir bekannten so genannten Revolutionen kamen die Durchführenden auf der Straße je an die Macht. Es waren Leute im Hintergrund, die es für sich steuerten und nutzen. Ein Machthaber verdrängte den anderen und für das Volk bleib alles wie es war. (Nach den Fürsten kamen die Oligarchen usw. )
Die Inversionen werde ich mir noch mal ansehen. Es war ein schon alter Text, den ich nicht mehr kritisch besehen habe.
Danke fürs Einwählen und Deine Meinung!
LG Ulrich

Lieber Ulrich,

ich bin sicher nicht die Richtige, um hier zu werten, denn ich habe immer im Westen gelebt und hatte nur wenige Verwandte jenseits der Grenze, über die nur erzählt wurde, besuchen konnten wir sie nicht.
In meinem erwähnten Gespräch mit dem Bürgerrechtler kam selbstverständlich auch die Abwesenheit des Großen Bruders UDSSR zur Sprache.
Ich weiß wirklich nicht, ob die Menschen mutig oder feige waren, aber sie haben ohne Gewalt eine Veränderung herbei geführt. Das jetzt kleinzureden empfinde ich als nicht besonders „einheitlich“.
Ich habe manchmal Probleme und manchmal nicht.

Mache dir bitte keine Sorgen um die Inversionen. Klar, sie sind unschön und passen nicht zum Inhalt und schon gar nicht zu deinem Stil, aber bei einem Gedicht, das mit Herzblut geschrieben ist, können sie durchaus toleriert werden .
Herzliche Grüße,
Heliane.

lieber Ullrich
Du hast Dich verlesen, ich schrieb ... die Wahrheit ist immer konkret. Auch ich wollte grundlegende Änderungen, aber ich habe mir nie eingebildet, diese Änderungen im vereinigten Deutschland zu finden. Nicht solche Änderungen wie Brüderlichkeit und Solidarität zum Beispiel. Aber ich habe die Möglickeit bekommen meine Tochter aufwachsen zu sehen ohne Mauer und Maulkorb. Ist doch schon mal was.
Liebe Heliane
ich kann nur für mich sprechen. Die Gier nach Luxus war bei mir nie ein Gedanke der mich auf die Straße gebracht hat. Ich kann Dir nicht erklären wie es sich anfühlt "hinter der Mauer" zu leben, aber ich sah damals den Hoffnungsschimmer das zu ändern, ich wollte nicht nur Besuch von Verwandten aus dem "Westen" empfangen können. Ich wollte frei reisen, ich wollte sagen können wo und welcher Mist gebaut wurde.

herzlich Ilona

Liebe Ilona,

Zitat

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Ich kann Dir nicht erklären wie es sich anfühlt "hinter der Mauer" zu leben,

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Doch, ich weiß, wie es sich anfühlt! Immerhin waren wir Berliner rundum eingemauert und es gab immer Probleme an den Grenzen!
Wir durften zwar reden, wie uns der Schnabel gewachsen war und mussten keine Angst vor unserem Nachbarn haben, aber wir waren eingemauert, das wird sehr häufig vergessen! Wolltest du Berlin mit dem Auto verlassen, bekamst du Probleme an den Grenzen - stundenlang! Wir hatten uns zwar damit eingerichtet, aber wir waren unfrei, bedroht und nicht wirklich glücklich.
Wir hatten Freunde in Exklaven, die wir nur nach Anmeldung und Ausweiskontrolle besuchen durften und nach 22:00 Uhr verlassen mussten, das war nicht lustig.
Wir durften Angehörige, die dicht an der Mauer wohnten, nur auf Antrag besuchen ...... etc.
Berlin war Mittelpunkt des Kalten Krieges, sämtliche Waffen waren auf uns gerichtet! Glaub mir, die Zeit war für uns auch nicht schön.

Mir fällt gerade eine Episode ein, die ich beisteuern kann.
Ich grüße dich herzlich,
Heliane.

Sassnitz 1978

Wir waren auf dem Rückweg aus den Ferien auf Bornholm und kamen nachts mit der Fähre in Sassnitz an. Die Söhne schliefen fest im hinteren Teil unseres Kombi.
Am Grenzübergang erwartete uns eine Uniformierte Typ Konzentrationslager-Aufsicht. Sie bestand darauf, die Kinder (ein Jahr und vier Jahre alt!) zu wecken, in Schlafanzügen frierend neben das Auto zu stellen, um in aller Ruhe unter die Matratzen zu schauen, den Fond auseinanderzunehmen etc. Das war Schikane! Ich war sehr aufgeregt bis mein Mann mich bremste mit dem Argument, dass ich im DDR-Gefängnis landen würde, gäbe ich keine Ruhe.

Ich möchte mit diesem Erlebnis keineswegs behaupten, dass uns jeder DDR-Bürger so schrecklich behandelt hätte. Aber die Liste unserer Grenz-Erlebnisse ist lang und unglaublich.

Liebe Medusa,
ich kenne diese bedrückende Situation an der Grenze, ich habe sie auch erlebt - sogar auch dann, wenn wir "nur" ins "Bruderland" fuhren. Doch ist es ein Unterschied, ob man durch ein Dunkel hindurch muss oder darin lebt. In gewisser Weise passen sich die Augen dem Dunkel an. Eine Kerze wird dann zur Sonne.
"Dein Wort sei meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg." Doch scheint die Kerze ins Gesicht, macht sie im Dunkeln blind. Die Kerzen im Oktober waren es nicht, wohl aber die Novemberkerzen, die blind machten.
Schikane würde ich das sicher nur selten nennen, es war ein Druck der Angst, der einfach nur weiter gegeben wurde. Ich habe Unfreundlichkeit, Steifheit und Dummheit erlebt, doch Schikane war nicht dabei.
Nun, das Thema ist unerschöpflich!
LG Ulrich

Lieber Ulrich,
bei allem Unrecht, das den DDR-Bürgern widerfuhr und für das ich Verständnis und Mitgefühl empfinde, wird immer wieder vergessen, wie es uns Westberlinern erging! Wir waren auch eingemauert! Besucher bestaunten die Mauer und fuhren wieder ab, wir mussten dableiben! Freiheit war auch für uns ein Fremdwort.
Herzliche Grüße,
Heliane.