Was wäre, wenn ich meinem Ur-Urgroßvater begegnen würde?
Es nieselt. Eine dralle Person mit wachen Augen und einer weiß gestärkten Schürze öffnet mir die Tür. „Sie wünschen?“ „Ich bin es, Anna, und ich würde gerne zum Geheimrat.“ „Haben Sie einen Termin?“ „Nein, ich bin seine Ur-Urenkelin und ich möchte ihn endlich einmal persönlich kennenlernen. Soviel habe ich schon über ihn gelesen, soviel über ihn nachgedacht, soviel ihm nachgespürt, dass ich diese kleine Chance an einem trüben Novembertag, am Vortag seines Geburtstages, nicht verstreichen lassen möchte. Können Sie das verstehen?“ Sie lächelt. „Treten Sie ein, ich bin Lieschen, die Haushälterin. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.“
Leise zieht sie die schwere Eichentür hinter mir zu und geleitet mich in einen Raum, an dessen holzgetäfelten Wänden Jagdtrophäen hängen. Geweihe von Antilopen, Rotwild, Wasserbüffeln und in der hintersten Ecke, leicht angestaubt, ein Wildschweinkopf mit langen Hauern. Geschenke von Weggefährten des Geheimrates, denke ich, während ich langsam meinen Mantel abstreife.
„Nehmen Sie doch Platz, der Geheimrat wird sofort bei Ihnen sein.“ Auf dem runden Birnbaumtisch steht ein silberner Leuchter, das Kerzenlicht flackert unruhig, ich wische mir verstohlen meine schweißnassen Hände an der Hose ab. Es ist früher Abend, draußen steigt allmählich der Nebel aus den Niederungen auf. Wir sind hier in Pommern, in einem ehemaligen Jagdhaus, der Meseritzer Mühle, dem Alterssitz von Großchen, meiner Ur-Urgroßmutter und ihrem Mann. Wir schreiben das Jahr 1927.
In der Ferne höre ich schwerfällige Schritte auf einer Treppe. Ich höre das Ächzen der Stufen, das einem Seufzen gleichkommt und drehe mich um. Da steht er plötzlich vor mir. Ein großer stattlicher Mann. Ich erkenne ihn an seiner Zigarre, denn ich weiß, dass er ein passionierter Raucher ist. Er streckt mir seine Hand entgegen: „Guten Tag, meine Liebe. Ich habe lange auf dich gewartet. Schön, dass du den Weg zu mir gefunden hast.“
Ich reiche ihm meine Hand und stammele ein Hallo. Das ist er also, der große Vorfahr, von dem alle so ehrfürchtig sprechen. Seine braunen Augen erinnern mich an die meines Vaters, in ihnen liegt viel Güte und Wärme, aber auch etwas, das kein Erbarmen duldet. Ich traue mich kaum zu atmen in seiner Gegenwart, sehe mich nervös im Raum um bis mein Blick auf einen kindskopfgroßen Bernstein fällt, der in einer Holzschale auf einer Kommode plaziert ist. „Da ist er ja, den kenne ich schon,“ rufe ich begeistert und er lächelt milde zurück.
Draußen bläst der aufkommende Sturm einen Ziegel vom Dach. Es knallt, ich schrecke zusammen. Mein Herz springt fast aus meiner Brust als die Silhouette meines Ahnen nach und nach im Nebel entschwindet und ich ihn noch flüstern höre: „Mein Kind, sei gewiss, ich komme bald wieder. Bestimmt!”
solche Spielchen mache ich in Bezug auf meine Großmutter, die sehr viele Erinnerungen aus ihrer Jungmädchenzeit auf Lager hatte und sehr gerne erzählte, als sie schon erblindet war… Diese Erzählungen sind bis heute ein Schatz für mich, so dass ich mich immer wieder dabei erwische, .wie ich mich in ihre Zeit hineinträume. Sie wuchs als Tochter des Gießener Gefängnisdirektors auf und ihre Familie lebte in einer kleinen Dienstvilla am Rande des Gefängnisses.
das ist eine träumerische schöne Geschichte, mit dem Konjunktiv in der Vergangenheit. nur statt dem nüchternen "Wir schreiben das Jahr 1927." würde ich ein Ereignis erwähnen, z.B. "Der Schwarze Freitag war gerade einen Monat her."
Liebe anna a. Deine Geschichte wirkt gerade noch so tief in mir. Ich bin fast sprachlos von den Eindrücken. Ich mag alles an dieser Geschichte. Ich bin vom ersten Augenblick eingetaucht und habe begeistert gelauscht. Liebe Grüße Ilona
Vielen Dank für eure Kommentare, die mich sehr gefreut haben. Es sind diese täglichen waswärewenn Fragen, die mich sehr inspirieren und mich streiflichtartig durch mein Leben und das meiner Vorfahren führen. Ich kann euch so ein Experiment sehr empfehlen.
Liebe Grüße
anna a.
PS: Thomas, ich werde die Jahreszahl so stehen lassen. Vielleicht genau, weil sie einen Kontrast bildet.
mich hat die Jahreszahl etwas befremdlich aus der Geschichte herausgeholt, aber wenn du das bezwecken willst, ist das so richtig. So oder so, ein sehr schöner Text.
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