Genau weiß ich es nicht mehr, aber Acht oder Neun Jahre muss ich gewesen sein, als ich etwas sehr Wichtiges begriffen habe. Damals war ich in einem Kinderheim, das neben einer kleinen Kapelle am Waldrand gelegen war. Der katholische Gottesdienst, noch in lateinischer Liturgie, mit den prächtigen Messgewändern, dem Weihrauch und der heiligen Hostie in der strahlenden Monstranz, deren Erscheinen aus dem Tabernakel über dem Altar zum jeweiligen Höhepunkt der Andacht wurde, zog mich an, und meine Phantasie hielt diese Bilder und Stimmungen über den Tag hinweg wach.
Während die anderen rauften oder Fußball spielten, was im Grunde das Gleiche war, verkrümelte ich mich oft durch eines der Löcher im Zaun in den angrenzenden Wald, wo ich im Gebüsch meine Plätze hatte. Dorthin kauerte ich dann, wie eine Katze, um nachzudenken. Eigentlich war es kein Nachdenken, denn ich tat nichts, betrachtet die schönen Pflanzen und Tiere um mich herum, und die Gedanken kamen zu mir wie freundliche Besucher. Logik lernte ich erst viel später kennen, es waren Gefühle und Bilder, die sich zu Gedanken formten.
Immer wieder beschäftigte mich die Frage, wie man Gott, den ich mir als etwas Wunderschönes und Großes vorstellte, nicht als Opa mit Rauschbart, wie man ihm nahe sein konnte, wie ich ihn erkennen und besser verstehen könne. Und eines Tages begriff ich etwas, dass mich in eine melancholische und gleichzeitig erhabene und freudige Stimmung versetzte. Diese kann ich mir noch heute vergegenwärtigen. Dieses Gefühl ging einher mit dem Verstehen, dass Gott unbegreifbar ist, dass er, wenn er wirklich Gott ist, über alles menschliche Fassungsvermögen hinaus vollkommen und vielfältig sein muss. Unfassbare Schönheit wie die aufgehende Sonne.
Dieses Erlebnis ließ mich nicht mehr in Ruhe. Plötzlich ergaben geheimnisvolle Dinge einen Sinn. Zum Beispiel das Geheimnis, oder die Dissonanz, der Dreifaltigkeit: Wie kann Drei gleich Eins sein? Vater und Sohn sind doch zwei Personen? Und die Taube zwischen ihnen, die den Heilige Geist verkörperte, die war doch etwas Drittes. Wie sollte das ein Eins sein? Das beunruhigte mich, weil ich nicht verstehen konnte.
Ich sah, dass es mich gar nicht beunruhigen muss, denn Gott ist doch ohnehin unfassbar. Meine Frage nach dem Sinn war nur zu kurz gegriffen, falsch gestellt. Das wurde mir jetzt klar. Ich musste nun nicht mehr fragen, wie das sein kann, und ob überhaupt, sondern konnte fragen, was es bedeutet.
Nach und nach verstand ich. Es bedeutet, dass Gott nicht einfach ist, sondern eine Beziehung, ein Beziehung zu uns Menschen. Gottes Sohn ist nur eine ganz besondere, unendlich starke Verkörperung Gottes im Menschen, die in schwächerer Form in jedem Menschen lebendig ist. Und der Heilige Geist ist die allesverbindende Liebe zwischen Vater und Menschensohn. Heute würde ich scherzhaft sagen, genau wie das Teilchen Gluon, welches Neutron und Proton bindet um den Atomkern des Wasserstoffs zu bilden.
Später fand ich in einem Müllkasten eine alte Bibel auf Dünndruckpapier. Der Umschlag war beschmutzt und ich machte mir aus braunem Packpapier einen Einband. Das war viele Jahre meine Bibel. Irgendwann las ich darin: "Denn unser Wissen ist Stückwerk... Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen." Ich war gerührt und begeistert – genau das ist es, das offene Geheimnis der Dreifaltigkeit, welches wir erst von Angesicht zu Angesicht verstehen.
Nun verläuft nichts im Leben gerade, wie eine Autobahn. Der junge Mann, der ich wurde, der sehr stolz auf eine Klugheit war und von Mathematik und Naturwissenschaft begeistert, fand sich plötzlich als Atheist wieder. Die kindliche Erkenntnis war unter der Begeisterung für Logik und die kritische Methode der Naturwissenschaft verschüttet. Erst als ich, veranlasst durch einen Mathematik-Dozenten (Armin Herzer), der ursprünglich Theologie studiert hatte, die Arbeiten von Georg Cantor und Kurt Gödel studierte, wurde mein Verstand wieder demütig. Ist es nicht das Großartige an der naturwissenschaftlichen Methode, dass sie sich rigoros ihre eigene Beschränktheit klar macht? Und liegt nicht das Wesentliche des Seins jenseits ihres Stückwerks? Wie dem auch sei, seither erscheint mir das überhebliche Gebaren der Atheisten-Sekte zunehmend arrogant und lächerlich.
Damals lernte ich auch, durch einen Professor für Geschichte der Naturwissenschaften (Fritz Krafft) Johannes Kepler kennen. Kepler, diesen wunderbaren Menschen, der nicht nur die, auf Kraftwirkung der Körper beruhende, "Neue Astronomie" schuf, sondern damit die Methode moderne Naturwissenschaft insgesamt begründete, und die bis dahin geltende Aristotelische Naturphilosophie ablöste. Vom heutigen vorherrschenden reduktionistischen Standpunkt des Materialismus mag es überraschend sein, dass die moderne Naturwissenschaft entstand, weil Kepler Naturerkenntnis als Gottesdienst sah, als ein "Nachschaffen" des Werkes des göttlichen Schöpfers.
Beim Studium Keplers verstand ich, dass die wagemutige Idee der Gravitation (Kepler nannte es noch magnetische oder magnet-ähnliche Kraft) und das Aufbrechen des kosmischen Sphären in freie Planetenbahnen, nicht aus reiner Interpretation der Daten entstehen konnte, sondern durch das "paradoxe" Urbild der Dreifaltigkeit ermöglicht wurde. Kepler übernahm nämlich die Versinnbildlichung der göttlichen Dreifaltigkeit durch Zentrum, Umfang und verbindender Fläche des Kreises von Nikolaus von Kues, um die bewegende Sonne im Zentrum als Ursache der Planetenbewegungen zu erkennen, das ist der Kern der "Neuen Astronomie", nicht die drei sogenannten Keplerschen Gesetze.
Ich bin keine Theologe und kein Philosoph. Kluge Köpfe mögen Gott für tot erklären, und so glücklich werden, oder unglücklich. Wem es reicht, sich durch Rückführung der Beobachtungsdaten auf Ursachen bis zum Big Bang zurückzuhangeln, soll damit glücklich werden. Ich sehe darin keine Antwort, sondern eine Zwischenbilanz der logischen Schlussweise. Selbstverständlich muss man alles so gut wie möglich auf Ursachen zurückführen und die Randbedingungen der Differentialgleichungen, mit denen wir die Naturgesetze formulieren, festlegen. Aber das ist nur Naturbeschreibung und erklärt nicht das Wesen, warum es gerade so ist und nicht anders. Wer alles letztendlich durch den Zufall erklären will, wie schon der alte Demokrit, der macht es sich jedenfalls zu einfach.
Für mich ist ein Formalismus keine befriedigende Erklärung, und ich lebe lieber mit der demütigen Erkenntnis, dass ein unser Erkenntnisvermögen übersteigendes Wesen sinnvolle Ziele verfolgt, und uns Menschen, obwohl wir seine Zwecke nicht völlig erfassen können, die Freiheit gibt, diese erahnend in unserem bescheidenen Maß mitzugestalten. Wenn ich mir die erhabene Freude in Erinnerung rufe, welche damals mit der Erkenntnis der Grenze meiner Erkenntnisfähigkeit einherging, dann gebe ich mich gerne mit dem stückweisen Sehen zufrieden, bis ich dann sehe von Angesicht zu Angesicht.
deine Schilderungen von Gotteserfahrungen und persönlichem Erkenntnisgewinn ist für mich beeindruckend. Danke für diese, so persönliche Lebenserfahrung und das anschießende Resümee. Das Gottvertrauen das daraus spricht, ist schön für mich mitzuerleben.
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