#1 | Über Bäume.
10.08.2015 10:29 (zuletzt bearbeitet: 02.06.2016 12:56)
wüstenvogel
(
gelöscht
)
Dieses Gedicht habe ich vor einigen Jahren geschrieben - angeregt von dem Fried-Gedicht: "Gespräch über Bäume". Ich habe versucht, es ein wenig zu "aktualisieren":
Von unserem alten Apfelbaum ist ein großer Ast abgebrochen. Es hingen wohl zu viele Früchte daran.
800 Millionen Menschen auf der Welt leiden an Hunger. 50.000 von ihnen sterben jeden Tag daran.
Unser Hausflur muss neu gestrichen werden. Er ist zu dunkel und wirkt unfreundlich.
Fast alle der 60 Millionen Flüchtlingen "leben" in Zelten. 30 Millionen von ihnen sind Kinder.
Unser Junge macht uns große Sorgen. Wir wissen nicht, ob er das Gymnasium schafft.
Nur in jedem 2. Land besuchen Kinder eine Grundschule. Fast 100 Millionen schließen diese nicht ab.
Was soll das? Man muss nicht immer an das Elend denken. Nein, nicht immer. Doch wir leben alle in einer Welt.
Auch in diesen Zeiten liebe ich es über Bäume zu sprechen über den Frieden den sie uns zeigen ohne das Unrecht zu verschweigen und die vielen Verbrechen.
"Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Bäume schon fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt?" (B. Brecht, An die Nachgeborenen)
es nennt sich Leben, was? Manchmal könnte man fast zusammenbrechen, aber wem hilft es? Fremdes Leid ist manchmal für die Psyche schwer zu ertragen, weil man nichts dran machen kann, weil man am fremden Schicksal nicht "drehen" kann. Aber was man an Hilfe geben kann, das sollte man natürlich tun. Du hast hier etwas beschrieben, was wohl jeder kennt: Gedankenfetzen, die einem durch den Kopf gehen und runterziehen, zumindest wenn es um die schwere Seite des Seins geht. Meist hat das aber mit einem Selbst zu tun und verhindert effektive Reaktionen. Aber glaub mir, ähnliche Gedankengänge sind mir nicht fremd und das sind die Zeiten un denen es mir nicht besonders gut geht. Den letzten Abschnitt Deines Gedichtes möchte ich auch nicht unkommentiert lassen. Ein Heilmittel ist das Wunder der Natur und gerade sie - und dabei spielen Bäume eine große Rolle, - kann Ruhe und Kraft geben. Wie schön, das Du das Heilmittel auch noch mitgeliefert hast. So, jetzt geh ich in den Wald um eine Runde zu laufen.
wir sind wieder da, angekommen in den Zeiten wo ein Gespräch über Bäume schon fast ein Verbrechen ist. Mein Mann sagte vor einigen Wochen: "in deinen Gedichten ist in letzter Zeit immer ein gewisser Pssimismus und soviel Politik zu spüren. Sind die Zeiten der Liebesbeteuerungen und der Heiterkeit vorbei?" Aber wie sollen wir heute unbefangen über die heile Welt schreiben? Wir sehen doch wie es in der Welt aussieht. Dein Gedicht macht es mir wieder all zu deutlich. Aber lieber Michael, es zeigt mir auch, ich bin nicht alleine mit meinen Gedanken, mit meiner Angst. Ich denke wir sollten uns das Recht nehmen diese Ängste zu formulieren. Du hast es in wunderbarer Weise geschafft.
Fried hat sich in seinem Gedicht zweifelsohne auf das Brecht-Zitat bezogen, was schon einige andere Dichter zu eigenen Werken inspiriert hat. Gut, dass Brecht das kleine Wörtchen "fast" mit eingebaut hat, sonst dürfte man seiner Meinung nach nicht mehr über Natur sprechen und schreiben.
Für mich ziehe ich daraus den Schluss, dass man beides tun sollte - sich (wie auch immer) für eine bessere Welt engagieren UND sich von Zeit zu Zeit eine "Auszeit" zu nehmen (vielleicht in der Natur). Schlimm genug, dass man dabei fast? ein schlechtes Gewissen bekommen könnte. Ich bin zutiefst dankbar, dass es mir so gut geht - und das empfinde ich als Verpflichtung, anderen zu helfen (Stichwort Flüchtlinge).
Lieber Michael, was mir besonders gut an deinem Gedicht gefällt, sind die Gegenüberstellungen unserer Banalitäten zu den uns alle belastenden Realitäten. Der alltägliche Bericht macht uns allmählich blind für das Leid direkt vor unserer Haustür, stumpft ab. Unsere Möglichkeiten, wirklich zu helfen, sind begrenzt. Wer dies erkennt und zusätzlich das Desinteresse Derjenigen, die vielleicht noch in der Lage wären, das Ruder herumzureißen, muss verzweifeln. Jedoch, auch wir, denen es gut geht, möchten leben, lachen und uns an einen Baum lehnen und träumen. Es hilft weder den armen Menschen noch uns, wenn wir Betroffenheit signalisieren, uns trauernd zurück ziehen und darauf warten, dass andere helfen. Wir können die Welt nicht retten, wenn die Gesellschaften es nicht zulassen. Unsere Gesellschaft ist marode, Einzelne werden sie nicht verändern; was wir brauchen, ist ein Aufstand der Betroffenen, endlich mal ein Wachrütteln! Dein Gedicht macht wütend, ich halte es für sehr wichtig. Herzliche Grüße, Heliane.
Die Idee mit der Gegenüberstellung habe ich aus dem Fried-Gedicht, er bezog sich damals auf Vietnam.
In einem anderen Gedicht sagt Fried (sinngemäß: Wenn wir nicht aufhören, uns mit unsren alltäglichen Banalitäten zu befassen, dann geht die Welt unter. Und wenn wir uns nicht mit unsren alltäglichen Banalitäten befassen, dann ist sie untergegangen.
Wie schon gesagt, wir sollten beides tun - uns engagieren und auch von Zeit zu Zeit an der Natur (er)freuen - kämpfen und lieben!
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