Vor langer, langer Zeit lebten ein König und eine Königin, die sich von Herzen ein Kind wünschten. Endlich ging ihr Wunsch in Erfüllung, und die Königin gebar einen Sohn. Der König war außer sich vor Freude und ließ die Taufe mit großer Pracht feiern. Unter den vielen geladenen Gästen befanden sich auch die zehn weisen Frauen des Königreiches. Diese beugten sich über die Wiege des Kindes, und jede legte ihm einen mit Juwelen besetzten Ring hinein. Jeder Ring hatte seine besondere Bedeutung, er sollte dem künftigen König eine wichtige Fähigkeit verleihen. Diese waren: Einsicht, Klarsicht, Nachsicht, Rücksicht, Übersicht, Umsicht, Vorausssicht, Vorsicht, Weitsicht und Zuversicht. Der Knabe wuchs zu einem prächtigen Jüngling heran, und sein Vater lehrte ihn alles, was er zum Regieren seines Königreichs wissen musste. Als der König starb, war der junge Mann 21 Jahre alt und erbte als einziger Sohn das ganze Reich. Das Regieren fiel ihm aufgrund der Lehren des Vaters und der Tugenden, die ihm die weisen Frauen in Form der zehn Ringe in seine Wiege gelegt hatten, nicht schwer. Durch die Einsicht war er in der Lage, aus Fehlern, die er einmal begangen hatte, für die Zukunft zu lernen. Mit Klarsicht durschschaute er sämtliche Intrigen, mit Hilfe derer sich seine Minister, Ratgeber und sonstigen Mitarbeiter einen Vorteil zu verschaffen, bzw. ihn zu beeinflussen suchten. Er war aber auch nachsichtig denen gegenüber, die sich durch Fehlverhalten in eine unglückliche Lage gebracht hatten und gab ihnen die Chance, sich noch einmal zu bewähren. Mit Rücksicht behandelte er Behinderte, Kranke, Alte, Witwen und Waisen und sorgte dafür, dass sie nicht in Armut leben mussten. Durch umsichtiges Handeln gelang es ihm, Gefahren, die seinem Lande drohten, abzwenden und ihnen vorzubeugen. Die nötige Übersicht für diese wichtige Aufgabe lieferten ihm Kundschafter, die er an den Außengrenzen seines Reiches stationierte, damit sie ihn jederzeit von bedrohlichen Ereignissen schnellstens benachrichtigten. Aus diesen Erkenntnissen folgten alle erdenklichen Sicherheitsmaßnahmen, zu denen ihm die Vorsicht riet. Die Voraussicht und die Weitsicht ermöglichten ihm sogar, in der Zukunft liegende, sein Land eventuell schädigende Ereignisse, zu vermeiden.
So entstand bereits im Laufe der ersten Jahre seiner Regentschaft ein blühendes Reich mit zufriedenen, wohlhabenden Bürgern.
Eines Morgens befand sich der König auf einem Ausritt ohne Begleitung in der Umgebung seines Schlosses. Es war ein herrlicher Sommertag, er erfreute sich an der schönen Natur und vergaß die Zeit. Um die Mittagsstunde, als die Sonne heiß vom Himmel brannte, plagte ihn großer Durst. Zum Glück erblickte er einen Ziehbrunnen, bei dem er völlig erschöpft anhielt. So schnell er konnte, ließ er den Eimer an der Kette in den Brunnenschacht hinabgleiten. Als er den mit Wasser gefüllten Eimer wieder hochzog, stieß er unglücklicherweise mit dem kleinen Finger seiner rechten Hand an die Kette, und der Ring der Zuversicht fiel in den Schacht. Hastig trank er das Wasser aus dem Eimer und ritt wieder zum Schloss zurück. Kurze Zeit nach diesem Vorfall kam der Kundschafter von der Nordgrenze des Königreiches in Windeseile herbeigeritten. Atemlos berichtete er dem König, dass ein riesiges Heer fremder Soldaten im Anmarsch sei. Ohne auch nur eine Sekunde Zeit zu verlieren, beauftragte der König den Oberbefehlshaber des Militärs, sämtliche verfügbaren Streitkräfte zu mobilisieren. Dann ritt er an der Spitze seines Heeres dem Feinde entgegen. Es kam zu heftigen Kämpfen mit viel Blutverlust auf beiden Seiten. Trotz todesmutigen, heldenhaften Einsatzes seiner Soldaten, musste sich der König, angesichts der Übermacht des feindlichen Heeres, geschlagen geben. Er wurde gefangengenommen und in einen dunklen Kerker geworfen. Sein blühendes Königreich fiel in die Hände der Angreifer. Der König lag mutterseelenallein, mit schweren Ketten an Händen und Füßen, bei Wasser und Brot auf dem nackten Boden seines feuchtkalten Verlieses und haderte mit seinem Schicksal. Die Gaben der weisen Frauen, die ihm bei der Bewältigung seiner Regierungsarbeit so nützlich gewesen waren, halfen ihm hier nicht weiter. Weder Einsicht, Klarsicht, Nachsicht, Übersicht, Umsicht, Vorsicht, Rücksicht, Voraussicht und Weitsicht konnten ihn aus seiner misslichen Lage befreien. Nur die Zuversicht hätte ihm jetzt von Nutzen sein können. Aber der Ring der Zuversicht war unglücklicherweise in den Brunnen gefallen. Von Tag zu Tag erschien ihm seine Lage hoffnungsloser. Eines Nachts, als er völlig niedergeschlagen war und nicht schlafen konnte, ließ ihn ein Geräusch aufhorchen. Das Mondlicht schien durch eine Mauerritze, und er bemerkte eine hässliche Kröte. Der König lächelte traurig und sagte: "Bist du gekommen, um mir Gesellschaft zu leisten?" Die Kröte antwortete: "Ich bin gekommen, um dir Mut zu machen!" "Ach", lamentierte der König, "es ist zu spät. Ich habe mein Königreich verloren, es ist alles aus, und du kannst mir gewiss auch nicht helfen. Hätte ich doch nur den Ring der Zuversicht nicht verloren!" Und er erzählte der Kröte, wie ihm der Ring in den Brunnen gefallen war. Die Kröte hatte ihm aufmerksam zugehört. "Wenn es weiter nichts ist, den Ring kann ich dir doch besorgen. Du brauchst mir nur zu beschreiben, wo ich diesen Brunnen finde." Der König erklärte der Kröte den Weg zum Brunnen, und es dauerte nicht lange, da erschien sie wieder mit dem Ring im Maul. Überglücklich steckte der König den Ring an den kleinen Finger seiner rechten Hand, und sofort fühlte er sich besser. Von Tag zu Tag wuchs seine Zuversicht und das Vertrauen in eine bessere Zukunft. Die Kröte aber besuchte ihn jeden Abend, um ihm Gesellschaft zu leisten. Eines Abends kam sie fröhlich herbeigehüpft und unterbreitete dem König einen Rettungsplan, den sie sich mit ihrer Freundin, einer Kobra und den Giftschlangen des Königreichs, ausgedacht hatte. Der König hielt diesen Plan für durchführbar und so geschah folgendes: An und in jedem Brunnen des Königreichs versteckten sich mehrere Schlangen, und sobald ein feindlicher Soldat Wasser aus einem Brunnen schöpfen wollte, wurde er durch einen Schlangenbiss getötet. Panik breitete sich aus, und die verbliebenen feindlichen Besatzer verließen so schnell sie konnten das Königreich. Es war die treue Kröte, die dem König die wunderbare Nachricht von der Befreiung seines Reiches überbrachte. Dieser hob sie voll freudigen Überschwangs vom Fußboden hoch und drückte ihr einen Kuss auf das breite, feuchte Maul. Wie groß war aber seine Überraschung, als er auf einmal eine wunderschöne Prinzessin in seinen Armen hielt. Als sich die Tür des Burgverlieses öffnete, und zahlreiche Bürger des Landes ihren König befreien wollten, bot sich ihnen ein ergreifendes Bild. Der König kniete vor einer bildschönen, schwarzhaarigen jungen Frau und steckte ihr einen mit Juwelen besetzten Ring an den Finger. Die Prinzessin erzählte unter Tränen, dass sie viele Jahre auf ihre Erlösung gewartet hatte, denn nur ein König hätte sie von dem bösen Zauber, der auf ihr lag, befreien können. Unter lauten Jubelrufen der Bürger ritt der König auf einem eilig herbeigebrachten Schimmel mit der Prinzessin vor ihm im Sattel zu seinem Schloss, wo schon bald die Hochzeit mit aller erdenklichen Pracht gefeiert wurde. Der König regierte wie zuvor mit Einsicht, Klarsicht, Nachsicht, Rücksicht, Übersicht, Umsicht, Vorsicht, Weitsicht und weiser Voraussicht sein Land. Aber den Ring, den der König im dunklen Verlies der Prinzessin über den Finger gestreift hatte, hütete diese wie ihren Augapfel, damit die Zuversicht nie wieder verloren gehen sollte.
mir gefällt dein Märchen sowohl sprachlich als auch inhaltlich; es macht nachdenklich, kommt aber nicht mit erhobenem Zeigefinger daher. Die Verknüpfung verschiedener Märchen (sogar die Ringparabel vermag ich zu erkennen) ist dir bestens gelungen; du hast daraus eine völlig eigenständige, sehr aussagekräftige, bild- und temporeiche, neue Geschichte erfunden, die Jung und Alt fesseln wird - gut für lange Winterabende .
Sehr gerne gelesen. Herzliche Grüße und liebe Wünsche für die Vorweihnachtszeit, Medusa.
ja, dieses Märchen zu schreiben war eine ganz neue Erfahrung für mich. Das Thema Zuversicht liegt mir sehr am Herzen, und wie wichtig es ist, sie nicht zu verlieren, kann man auch am Beispiel Nelson Mandela erkennen. Bei ihm war es tatsächlich ein Gedicht, das ihm dabei half, in seiner Gefängniszelle nicht zu verzagen. Was doch gut formulierte Gedanken in einem Text alles bewirken können! Toll!
Über die positive Bewertung meiner Geschichte freue ich mich sehr, das ermutigt mich, weiter in dieser Richtung zu arbeiten.
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