Das Wort verhallt
zwischen den Zeilen bleiben
sie, die Fragen,
die Sehnsucht, die Wut und
der Wunsch.
Ohne Antwort tanzen
die Silben
ihr Solo,
das keiner liest.

Liebe anna a.,
ich meine, dass du hier auch Bezug nimmst auf etliche unkommentierte bzw. ungenügend beachtete Beiträge. Da stimme ich Dir gern zu.
Es ist nur so, dass es sich nicht um Zwiegespräche handelt und damit kein einzelner in der Pflicht steht.
Ich kenne diese neue Entwicklung in unserer modernen "Kultur".
Wenn ich einen anschreibe, so bekomme ich zu mehr als 50% eine Antwort. Schreibe oder spreche ich zugleich mehr als eine Person an, so liegt die Antwortquote bei etwa 1%.
Wer alle anspricht, trifft keinen.
Somit ist es eine Frage der Thematik/des Interesses oder der persönlichen Wertschätzung.

Ich bin keine Freund der freien Lyrik und oft empfinde ich es nur als zerhackte Prosa. Dabei stören mich fast immer die nicht nach inhaltlichen Kriterien sondern nur nach optischer Länge gesetzten Umbrüche.
Zu Form. Ich würde die Umbrüche Deines Textes (nach der Aussage und dem Gedankenfluss) wie folgt setzen:

Das Wort verhallt
zwischen den Zeilen bleiben sie,
die Fragen,
die Sehnsucht,
die Wut und der Wunsch.
Ohne Antwort
tanzen die Silben ihr Solo,
die keiner liest.

Jeder mag dazu eine andere Meinung/Empfindung haben, doch es lohnt sich generell, darüber nachzudenken. Immer!
Herzlichst Günter

Lieber Günter,

Nein, ich ziele keineswegs auf Unkommentiertes hier im Forum ab. Das ist für mich - so wie es ist - völlig in Ordnung. Ich wollte nur zum Nachdenken anregen, ob und welcher Unterschied besteht zwischen dem Schreiben mit sich selbst ( zum Beispiel Tagebuch ) oder dem Teilen von Texten mit einem Zuhörer oder Leser.
Was freie Lyrik betrifft, so hänge ich selbst gerade an dem Punkt: ist es zerhackte Prosa oder nicht?

Ich würde mich über Meinungen dazu freuen.

Herzlichst und danke...

anna a

Hallo zusammen,

mir gefällt der Text und gerade die Umbrüche geben meines Erachtens den als "zerhackte Prosa" bezeichneten Zeilen eben eine neue Bedeutung, die ihn genau deswegen von Prosa unterscheiden. Ich finde, dass genau in den Umbrüchen, dem optischen Aufbau und den dadurch entstehenden weiteren Bedeutungsebenen das liegt, was formfreie Lyrik ausmacht. Hier muss sich nicht die Sprache einem Formkorsett anpassen, sondern darf sich ihre eigene Form suchen.
Gerade die formlose Form und die Umbrüche sind sinnstiftend und wenn man sie geschickt einsetzt, kann man damit einiges sagen, was man mit genau diesen Zeilen ohne diese Form nicht könnte. Hier werden auch Sätze verkürzt, Worte anders zusammengefügt, zerteilt, auf mehrere Verse verteilt usw.
Ich halte diese Form von Lyrik keineswegs für zerhackte Prosa. Und selbst wenn sie das wären, wäre es eine legitime Form, die dadurch keineswegs weniger wert ist.

Liebe Grüße, Catweazle

Lieber Thomas, Catweazle und Günter,

Vielleicht bringt uns das Studium der Poesievorträge von Hilde Domin - ich meine , sie heißen: Poesie als Ausdruck von Freiheit - weiter .Bisher bin ich nur leider noch nicht dazu gekommen...

Nehmen wir einmal folgendes Gedicht von ihr:

Es knospt
unter den Blättern -
das nennen sie Herbst.

Was erklärt die lyrische Wirkung dieses Dreizeilers? Allein die Metaphorik? Die Distanzierung von dem eigentlich alltäglichen Vorgang?

Ich werde weiter darüber nachdenken und danke euch für die hoffentlich noch nicht abgeschlossene Diskussion.

Eins empfinde ich jedoch ähnlich wie Catweazle. Durch die Umbrüche entstehen Zweideutigkeiten in der Bedeutung. Das weitet das Denken und bringt neue Perspektiven.
So gibt es einen Unterschied zwischen : das Wort verhallt....... ( wo verhallt es? Wie verhallt es? ...und das Wort verhallt zwischen den Zeilen.

Und das Spiel mit dem Mehr ( oder Meer) an Bedeutungen bereitet mir Freude.

Zudem kann ein ungewohnter Umbruch zu einer winzigen Irritation führen, die wiederum etwas im Leser anstoßen kann. Anders als der Reim, mit dem wir vom Säuglingsalter an sozialisiert sind und der als Form uns auch hält, bricht freie Lyrik auf, verschiebt vermeintliche Grenzen und kann so etwas Freisetzen.

Letztlich war dies doch das Ziel der Dadaisten, wenn ich mich recht erinnere.

Beste Grüße und ich bin weiterhin gespannt..

anna a.

Liebe anna a.,
auf Deine Frage zur zerhackten Prosa.
Zuweilen ist die Grenze in diesem Genre schwer zu ziehen. Prosa ist eine Form, die über den Inhalt nichts sagt. Besser gute Prosa als schlechte Lyrik.
Dein Text hat, keine Frage, eine gute Aussage und die Beschäftigung mit den Umbrüchen hat Dir gezeigt, was alles möglich und denkbar ist.
Ich denke, dass Du daraus erkennen kannst, dass Dein Text zur Lyrik gehört.
Dein Beispiel von Hilde Domin ist ein gelungenes und gutes Beispiel für (nach meinem Geschmack) freie Lyrik, doch das mag jeder anders sehen. Wie schon gesagt, gibt es keine äußeren Regeln wie z.B. bei der gereimten Lyrik. Das macht es nicht nur schwer, eine Abgrenzung vorzunehmen, sondern auch gute freie Lyrik zu schreiben.
So wie bei dem Spruch, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, gehört sehr viel Übung dazu, um für sich selbst ein Gefühl und auch einen eigenen Stil reifen zu lassen.
Ich denke Du bist auf dem richtigen Weg!
Herzlichst Günter

Noch ein Nachgedanke. Aus der Aussage Deines Beispiels (3-Zeiler) hätte man ebenso gut einen Aphorismus machen können. Auch das ist eine interessante Form.

Liebe alle,

Hier noch ein Beispiel für freie Lyrik von Rose Ausländer:

Ich habe mich
in mich verwandelt
von Augenblick zu Augenblick

in Stücke zersplittert
auf dem Wortweg

Mutter Sprache
setzt mich zusammen

Menschmosaik

Und noch ein Beispiel von Erich Fried, das nach Vorlage einer Zeitungsannonce der Polizei entstand:

Der Polizeipräsident
in Berlin sucht:
Schäferhundrüden.

Alter ein bis vier Jahre,
mit und ohne
Ahnentafel.

Voraussetzungen: einwandfreies Wesen
rücksichtslose Schärfe
ausgeprägter Verfolgungstrieb

Schußgleichgültigkeit
und
gesund
[…]

Liebe anna,
sehr spannend ist diese Diskussionsrunde und ich kann nur dazu lernen, was mich sehr freut.
Ich denke man muss den Menschen auch zutrauen das sie eben nicht verblendet durch ihr Leben gehen und sich unwissend wie kleine Kinder, von Medien verblenden/blöden lassen. Einzelne ausgenommen. Haben wir doch etwas mehr Vertrauen in uns und unsere Jugend, die man an verschiedene Kunstformen heranführen kann, (lieber Hans).
Liebe anna,
was du hier schreibst ist für mich freie Lyrik und keine Prosa. Dagegen bin ich mir bei Erich Fried hier, gar nicht sicher. Er hat ja nur eine Zeitungsannonce in einer anderen Form geschrieben und der Text ist für mich Prosa. (übrigens ganz großartig, seine Umsetzung, die mir die Widersprüchlichkeit von gesund = rücksichtslose Schärfe, ausgeprägter Verfolgungs(trieb) und Schußgleichgültigkeit, also ein "(einwand)freies" Wesen darstellen. Das wäre doch mal ein gutes Lernbeispiel für den Deutschunterricht und ergäbe sicher sehr interessante Aufsätze. "Der Familienhund ist...."Wachs" in meinen "Händen"
In deinem Gedicht liegt deine gefühlvolle Seele, du lässt mich mit dir nach einer Antwort suchen.
LG Heike

Liebe Heike,

vielen Dank für deine Anmerkungen. Ja, der Fried Text sollte als Beispiel dienen, wie man Prosa " zerhacken " kann und dennoch sich etwas Poetisches entwickelt. Ich finde das ein interessantes Experiment von ihm und werde jetzt aufmerksam auf die Suche nach ähnlichen Vorlagen gehen.

Lasst uns einfach weiter darüber nachdenken, was das Geheimnis der sog. freien Lyrik ausmacht ..

Liebe Grüße

anna a.