Es trug sich zu, dass seit Jahr und Tag fünf kleine Wassergeister um den besten Platz am Grunde eines kleinen, unscheinbaren Sees stritten – der zugegebenermaßen, wenn man sich schon ein Urteil erlauben wollte, durchaus eine Besonderheit innehatte. Nahe der Schmetterlingsfelsen hatte der See eine wunderschöne, kleine Bucht. Nicht sehr tief war diese Stelle, und so verlieh das hereinfallende Licht dem Platz eine begehrenswerte Freundlichkeit. Leider aber war er zu klein, um allen zu genügen. Jeder der Geister indes dünkte, die eigene Tätigkeit sei von außergewöhnlicher Wichtigkeit, womit feststand, dass man selbst die beste Eignung besäße, dort zu wohnen. Eine Auseinandersetzung folgte der nächsten, und die fünf Streiter fanden zu keiner Einigung. Mehr und mehr Zeit verwendeten sie darauf, überzeugendere Argumente zu ersinnen, während sie ihre eigentlichen Aufgaben immer mehr vernachlässigten. Da geschah es! Die Sonne stand bereits schräg über dem See, das Wasser schillerte in silberrotem Glanz, als Nebel dem See entstieg und langsam Gestalt annahm. Die unermüdlichen Zankgeister jedoch, ganz damit beschäftigt, ihrem Streit endlich die entscheidende Wendung zu geben, gewahrten das Zeichen nicht. „Die Kinder sind selbstverständlich am wichtigsten!“, meinte da gerade eine füllige Geistfrau. Sie bedachte die anderen mit einem mütterlichen Blick und plusterte dabei – der Wichtigkeit halber – die Backen auf. Energisch wackelte sie mit den rundlichen Hüften. „Kinder brauchen zum Aufwachsen einen anständigen Platz – jawohl! Gesund aufwachsen! Es geht nicht an, sie in dunklen Tiefen hausen und spielen zu lassen. Womöglich treibt dort noch Gesindel sein Unwesen!“ Entrüstet stemmte sie die Hände in ihre Hüften und wackelte noch erheblich stärker. „Ich würde ihnen das Beste kochen, nur das Gesündeste, mit ihnen die schönsten Lieder singen und abends hinreißende Geschichten vorlesen. Geborgen sollen sie sich fühlen – doch, doch – ganz geborgen.“ Ihre Augen sprühten abertausend Mütterlichkeitsfünkchen, und ihr gewaltiger Brustkorb hob und senkte sich erregt. „Der Platz gebührt mir und den Kindern, das liegt doch klar auf der Hand!“ Mit einer resoluten Bewegung durchfurchte sie das Wasser. „Wie möchtest du den Kindern Geschichten vorlesen, wenn ich sie nicht zuerst schreibe?“, lispelte ein schmächtiges Bürschchen, nun an der Reihe. Trotzig schob er sein blasses Gesicht mit den tieftraurigen Augen vor. „Es ist doch angebracht, alles Vergangene festzuhalten: Erkenntnisse müssen niedergeschrieben, Geschehnisse dokumentiert und erläutert werden. Inspirationen werden zu Erzählungen – und wo, frage ich, lassen sich Gefühle besser spiegeln als in Gedichten?“ Vom Reden angestrengt, spuckte er unzählige kleine Tröpfchen ins Seewasser und schaute in die Runde – noch entschieden trauriger als zuvor. „Geschichten würde ich schreiben, ja, ja – Geschichten aller Art. Das würde ich. Das muss ich.“ Einen Moment ließ er seine Worte wirken, bevor er fortfuhr: „Aber nur unter den richtigen Bedingungen entstehen meine Geschichten. In den dunklen Tiefen dort müsste ich vielleicht verlieren…“ Damit vergrub er seine Hände tief in den Hosentaschen. „Ihr müsst also zugeben, welch enorme Bedeutung der Platz für mich hat. Deshalb obliegt mir das größte Anrecht.“ Völliges Schweigen füllte den Platz. Man erwartete geduldig den nächsten Mitstreiter. Mit federnden Bewegungen schwebte schließlich eine zierliche, junge Frau mit fließendem Haar und glühenden Augen in die Mitte, damit jeder sie sehen könne. „Welche Lieder mögen jene Kinder singen, wenn nicht ich den Versen ihre Melodien erdächte?“ Ihre wohltönende Stimme erhob sich, wäre da nicht – der vielen Streitereien wegen – ein krampfhafter Unterton. „Was vermag Herzen mehr zu ergreifen als der Harmonien Klang – die Botschaft, Ton für Ton der Seele entwunden? Oh, welche Zartheit, welche Freude, welche Hoffnung! Ein Lied treibt dem Auge manch heimliche Träne hervor.“ Um die eigene Achse drehend, mit einem eigentümlichen Lächeln, tänzelte sie im Rhythmus einer unhörbaren Musik und dirigierte mit schmalen Künstlerhänden. Jäh verharrend, die brennenden Augen weit geöffnet, sagte sie: „Doch nur in angenehmer Atmosphäre gelingen meine Werke. In den dunklen Tiefen versänke womöglich meine Seele – haltlos ausgeliefert den Mächten. Ohh…“ Sie schwebte zu den anderen zurück und überließ den Platz einem Mann mittleren Alters mit stattlicher Statur. „Eure Künste in Ehren – aber ich bin der wichtigste Mann vor Ort. Wer schafft alles Notwendige herbei und sorgt dafür, dass es funktioniert? Wer baut eure Nahrung an? Wer pflegt die Pflanzen und versorgt die Tiere? Ihr etwa? Nein, nein – ohne mich geht hier gar nichts. Deshalb steht mir der Platz zu.“ Damit drehte er sich auf dem Absatz um und stellte sich zu den anderen. So kam schließlich der letzte der fünf Geister an die Reihe. Ein hagerer Geist trat vor. Er rückte die Brille vor den klugen Augen zurecht, räusperte sich geräuschvoll und sprach ruhig und deutlich: „Jede Form von Fähigkeit setzt Lernen voraus – unter Anleitung, meine Herrschaften. Welche Geschichten, welche Lieder und Verse wolltet ihr schreiben und welche vorlesen, wäret ihr des Lesens und Schreibens nicht mächtig? Wollt ihr eure Kinder nicht wohlgebildet?“ Sachte rutschte seine Brille den Nasenrücken entlang. Mit einer gewohnheitsmäßigen Geste schob er sie zurück. „Zielgerichtete Bildung fördert die Entwicklung eines gesunden Verstandes und befähigt, alles Sein kritisch zu betrachten.“ Damit beugte er seine hohe Gestalt vor, blickte über den Rand der neuerlich verrutschten Brille und sagte: „Mühe würde ich...“ Just in diesem Moment unterbrach ein Schrei seine Ausführungen. Ein Schatten verdunkelte den Platz. Die Künstlerin blutete an Stirn und Schulter. Die Mutter eilte zur Hilfe. Der Mann hob den Gegenstand auf, der die Verwundung verursacht hatte. Der Schriftsteller machte sich eilig Notizen, und dem Lehrer stand sprachlos der Mund offen, während seine Brille am äußersten Zipfel der Nase hing. „Sieht aus wie ein Tropfen aus Glas“, sagte der Mann. „Vorsicht!“, kreischte die Mutter, als weitere Tropfen herabfielen. Sie schob sich zur Seite, rempelte dabei den Schriftsteller an, der schimpfend gestikulierte – sein Heft nun mit einem dicken Strich verunstaltet in Händen. Der Lehrer, wieder ordnungsgemäß zurechtgerückt, versuchte die Herkunft der Glastropfen zu enträtseln, indem er auf einen Felsbrocken kletterte. „Oh, seht nur – sie muss sehr unglücklich sein!“, rief er. Die Künstlerin, ihren Schmerz vergessend, reckte den Hals in die vom Lehrer angewiesene Richtung. Drei drängelnde Geister spähten ihr neugierig über die Schulter. Auf einem der Schmetterlingsfelsen nahe dem Ufer kniete eine Frau. Durchscheinend, unwirklich, umgeben von einem silbrig schillernden Nebelschleier, der weit in den See reichte. Still hielt sie das Gesicht zum Himmel gewandt, während unablässig Tränen aus ihren Augen tropften – als gläserne Tropfen, die auf den Seegrund regneten. „Die Arme! Bestimmt hatte sie keine gute Kindheit – ich sag’s ja!“, entsetzte sich die Mutter und konnte ihre wackelnden Hüften kaum bändigen. Der Schriftsteller, hinter ihrer Fülle halbwegs in Sicherheit, hüpfte erschrocken einem Glastropfen aus dem Weg. „Solche unendliche Traurigkeit – bestimmt ist sie sehr einsam. Keiner, der sie liebt. Darüber werde ich schreiben“, lispelte er ergriffen. „Bestimmt ist sie so niedergeschlagen, weil sie nicht genug weiß“, widersprach der Lehrer und stieg vom Felsen herab. „Du würdest auch weinen, hättest du nichts anzuziehen!“, ereiferte sich der Mann. „Bestimmt hat sie auch nichts zu essen.“ Im Spiel der späten Sonnenstrahlen lösten sich die Konturen der Frau allmählich auf, verschmolzen zu einem silbrig schimmernden Nebel, der leise aus den Tiefen des Sees emporstieg und sich langsam wieder in dessen dunkle Wasser zurückzog. Doch überall lagen verstreut unzählige gläserne Tränen. „Die Lösung! Ich habe die Lösung!“, rief der Lehrer, das Gesicht vom Glück erleuchtet. In der einen Hand hielt er seine Brille, in der anderen eine Glasträne. „Wir sammeln Tränen. Wem es gelingt, die meisten zu finden, wird Bewohner des Platzes!“ Schweigend starrten sich die Wassergeister an. Im nächsten Moment purzelten sie, schubsend und schreiend, durcheinander – sahen sie doch endlich, greifbar nahe, die Erfüllung ihres lang ersehnten Traumes. Aber – das Wasser geriet durch die Unruhe in Bewegung. Wo zuvor sanfte Wellen gewesen waren, entbanden sich gewaltige Wirbel. Leichte Strömungen pflanzten sich fort in einen aufschreienden Sog, während der in Krämpfen liegende See mehr und mehr über die Ufer trat. Da geschah es: Die Sonne sank glühend am Horizont. Wogende Schaumkronen schillerten in feurigem Glanz. Selbst der Himmel schien in Aufruhr. Spiegelbilder leuchtend roter Wolken setzten ihre Zeichen im aufgebrachten See. Eine wütende Welle erfasste die unermüdlichen Zankgeister – und spülte sie auf ihre eigenen Plätze zurück. So trug es sich zu, dass nach Jahr und Tag fünf Wassergeister in tiefem Nachdenken versunken waren.
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