Die Eiche kümmert nicht, wie alt sie ist, auch nicht die große Zahl der Eicheln, die ihre Krone spendet, Jahr für Jahr, auch nicht, wie viele nutzlos fallen und niemals keimen werden. Weiß sie doch: Es war nur eine einzige Eichel, aus der sie selbst, herrlich und groß, entstand.
Erste Liebe
Seit gestern umschmeichelte südlicher Wind die Zweige der Weide im Mühlenbachtal. So einfältig wie nun mal Zweigkinder sind, erwählten sie alle den Wind zum Gemahl und trieben ihm Knospen zu lustvollem Glück. Der Unstete ließ sie alleine zurück.
Pfingstrosenblüte
Sie stand allein. Ihr Festtagskleid war dunkelrot. Die Sonne und die Wolken waren ihr gewogen, und jeder war von ihren Düften angezogen.
Als sie so stand, da wurde ihr ein wenig matt. Ein kalter Wind. Es fiel ein erstes Blütenblatt. Sie stand noch immer ganz allein, ganz nah am Tod.
Wetterfront
Gischt springt von den Wellensäumen, die im Wind sich bäumen. Ausgefranste Wolkenfetzen, die vorüberhetzen, jagen Träumen nach, die mit milden Wogen, gestern noch gemach, in die Ferne zogen.
Herbstwind
Es fällt in mein Gedankenlaub ein Wind, und was seit Jahr und Tag in selbstgerechter Ruhe lag, wird aufgewühlt und wird zum Raub dem ungestümen Wirbelwind, der schwoll und schwillt, und nun beginnt, mir alles um- und umzudrehen. Noch kann ich es nicht recht verstehen, begann es doch mit einem Wehen, so mild und fast nicht wahrnehmbar!
Gestrandet
Sie liegen noch Hand in Hand, wie Muscheln am Meeresstrand. Sie liegen beisammen und lauschen vergeblich im Meeresrauschen nach dem, was sie Hand in Hand vor Zeiten im Grunde verband.
Dürreperiode
Trauertrocken lag die Erde da. Fragen brannten, was warum geschah. Endlich konnte wieder Regen fließen und aus Seelenschorf und tiefem Grund zartes Grün entsprießen.
Loslassen
Die Regentropfen hüpfen aus prallem Wolkenbauch. Die mutigen zuerst, dann Muttersöhnchen auch.
Sie platschen auf die Blätter und landen froh im Gras, und machen Tante Emma samt ihrem Pudel nass.
Die Wolke schaut den Tropfen gelassen hinterdrein: Es mögen meine Kinder auf Erden fruchtbar sein!
Seelenverwandtschaft
Der Schatten einer Feder huschte über den Sand, bis endlich ihn die weiße Möwenfeder fand.
Ein leichtes Lüftchen streifte Feder und Schatten gelind. Die Feder atmete sacht, der Schatten folgte ihr blind.
An die Wolke
Wandle im Blau, wandelnd dich im Vergehn, hin wo das Meer in den Himmel entsteigt.
Hebe den Blick von dunklem Erdengrund auf in die Ferne und himmlisches Blau.
Wandle im Zephyrhauch, weise den Weg, wandle auch meinen Sinn, bis ich geläutert bin, dort wo das Meer himmelan steigt.
Auferstehen
Gefällt, so liegt sie da, die alte Eiche, trotz ihrer hundertachtzig Jahresringe. Wurzeln ragen aus dem Erdreich, wie Gebete, zum Himmel empor.
Vom Wind gefällt, so liegt sie da, lange schon. Doch siehe, dem totgesagten Stamm entsprießen Triebe nach und nach zu neuem Leben.
deine zahlreichen Gedichte der letzten Zeit, die du hier treffend unter eine Überschrift stellst, beweisen deine ungeheuer große lyrische Schaffenskraft, deren Ursprung geradezu aus deinen Gedichten strahlt.
vielen Dank für deine positiven Worte. Der Zyklus ist nach und nach entstanden, und im Grunde angeregt durch "nature writing". Ich weiß noch nicht was es genau ist, aber ich stelle mir eine Verbindung von menschlichen Stimmungen, Gefühlen und Naturerscheinungen darunter vor, denn die Natur schreibt ja nicht, sondern nur wir Menschen, die unsere Vorstellungen (möglichst behutsam) von und in der Natur ausdrücken können.
der Austausch darüber, was "nature writing" ist und was unser Schreiben bedeutet, hat hier ja noch nicht so intensiv stattgefunden. Das finde ich schade, hoffe aber es wird bald dazu kommen, bevor die Ergebnisse der neuen Birnen-Aufgabe hier mit Blitz und Donner einschlagen.
Deine Idee gefällt mir, wir verbinden uns in der Natur mit ihr und beschreiben behutsam was wir wahrnehmen, sowohl in der Natur als auch darüber, was die Natur in uns berührt und bewegt. Dafür ist deine Sammlung ein gutes Beispiel.
durch die Blütenlese, die du durch deinen Zyklus betrieben hast, kommen die Gedichte noch einmal voll zur Wirkung. Jedes steht für sich, doch wirkt die Abfolge besonders intensivierend, sehr sehr schön…
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15.09.2022 02:07 (zuletzt bearbeitet: 15.09.2022 16:48)
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