Einschulung

An der Hand der Mutter geht’s über die Brücke,
es faucht die Lock, es raucht der Schlot,
ein Donnern, ein Beben und ich unterdrücke
die Furcht, die Angst, die innere Not.

Noch eben im Warmen, im Bette gelegen,
gerissen aus Träumen, dann schnell durch die Stadt
zum Bahnhof, dem grauen, dem alle zustreben,
ein Riss durch die Dämmrung, die bergende Nacht.

Die Gleise, die führen in kältere Welten,
sie quietschen in Kurven, zerteilen das Grau.
Die Mutter hat Ängste, ich werd mich erkälten,
die Schule, das Lernen, das Leben ist rau...

Doch sie bringt mich hin, und sie lässt mich alleine,
noch draußen am Eingang mir zittern die Beine,
allein in der Menge, wie wird mir da flau!

Lieber Karlheinz,
da hast du ein sehr schönes lyrisches Gedicht eines ersten Schultages in eine Gedichtform gebracht (Sonettvariante?). Mir gefällt die konsequente kindliche Sicht und Erfahrung, die du einfühlsam widerspiegelst. Besonders der letzte Satz bringt es auf den Punkt: "Doch sie bringt mich hin, und sie lässt mich alleine,..." Sehr schön und nah am kindlichen Erleben geschrieben. Lediglich in Strophe II kippt der Reim "Stadt - Nacht" aus den sonst angewandten Reimen. Macht aber gar nichts, finde ich, da diese Passage sicher sehr bedeutsam für das geschilderte Empfinden ist. Dein Avatar scheint zu dieser Zeit zu passen.
Liebe Grüße
der Sanderling

Lieber Sanderling, lieber Thomas,

Erinnerungsfetzen der eigenen Einschulung haben mich zu diesem Gedicht inspiriert! Heute kann man sich die damalige Atmosphäre kaum noch vorstellen, die Straßen waren sehr früh morgens voller Fußgänger und Radfahrer, meist Männer, die zur Arbeit strebten und Straßenbahnen, die Eisenbahn oder Postbusse nutzten. Autoverkehr gab es kaum, die Straßenbeleuchtung war dürftig und überall lagen noch Trümmer. Für das Bringen am ersten Schultag war „natürlich“ die Mutter zuständig, auch wenn sie selbst neben der Hausfrauentätigkeit auch noch berufstätig war.
Es war jedenfalls ziemlich trostlos und die damals sehr überfüllten Schulen furchteinflößend.

Stadt und Nacht ist zwar ein unvollkommener Reim, aber immerhin sind beide Wörter einsilbig, enden auf t bzw. dt und haben ein kurzes a. Mich hat es das überhaupt nicht gestört!

Danke und liebe Grüße aus Samothraki, das wir nun leider langsam verlassen müssen...
Karlheinz

Lieber Karlheinz,
danke für deine weitergehenden Worte. Als ich 1963 eingeschult wurde, gab es durchaus auch noch längere Fußwege, wenig Individualverkehr und große Klassen. Die Trümmer waren allerdings verschwunden. Zu Beginn des Unterrichts ging ein Großer über den Schulhof und läutete eine Glocke am Stab, wie sie auch der Milchmann benutzte, wenn er durch die Straßen fuhr. -
Der Reim "Stadt - Nacht" störte mich auch gar nicht, er fiel mir als Ausnahme nur auf, und half mir dein Gedicht in der Form zu erfassen.
Danke!
Liebe Grüße
der Sanderling