Das Totenschiff

Hoch oben im Dorfe die Glocke anschlägt,
als Jannis im Hof grad sein Brennholz zersägt.
Ein Schiff kurz vorm Hafen kämpft hart mit den Wellen,
in Fetzen herüber die Rufe laut gellen.

Und Jannis, der Hirte, hört´s Läuten vom Turm,
das Schiff sieht er schlingern weit unten im Sturm.
Die klagenden Töne, die machen ihn bang,
die Hand lässt er ruhen, dann lauscht er dem Klang:

Die Glocke mit Pausen schlägt so monoton,
dass Panik ergreift nun den liebenden Sohn.
Seit Wochen die Mutter liegt schwerkrank an Land,
ob heil sie zurückkehrt, ist niemand bekannt!

Die Schwester vom Festland, die pflegt sie zu Hause,
der Herzschlag der Alten ist stockend mit Pause.
So stellt er sich vor, wie nun aussetzt der Schlag
und wie sie beginnt ihre Reise im Sarg...

...Im Schiff wird sie reisen, geschaukelt auf Wellen,
im Kasten aus Hartholz zurück zu den Quellen,
zurück zu den Felsen, zurück zu dem Berg,
wo taten so lang ihre Hände ihr Werk...

Nicht wissend, doch ahnend, der Sohn eilt bergab
den steinigen Saumpfad vorbei an dem Grab
des Vaters, der Jahre zuvor schon verschied,
von fern er die Farbe der Flagge schon sieht.

Die Flagge ist schwarz und auf Halbmast gesetzt,
ein sicheres Zeichen, denkt Jannis entsetzt:
Ein Toter wird heim auf die Insel gebracht,
gestürzt aus dem Leben in ewige Nacht!

Kopfüber und strauchelnd den Steilhang hinab
durchquert er die Klüfte, springt hoch mit dem Stab,
steigt auf und schlägt hin aufs Gestein mit dem Kopf!
Der Tod kommt ganz sachte, ergreift ihn beim Schopf.

Er fühlt sich erhoben und schwebt überm Riff,
vom Sturm hochgerissen und fliegt hin zum Schiff.
Er sucht nach der Mutter im Boot unter Deck,
beim Öffnen des Sarges durchfährt ihn der Schreck:

Was muss er da sehen im flackernden Licht?
Dort unter dem Deckel? Sein eignes Gesicht!



Schauplatz dieser Ballade ist die Insel Samothraki. Sie spiegelt ein legendäres Geschehnis im frühen 20. Jahrhundert wider:
Ein Hirt mittleren Alters aus Chora verletzt sich tödlich beim hastigen Sprung mit dem Hirtenstab, weil er fälschlich glaubt, die Leiche seiner Mutter käme mit dem Schiff.
Auch heute noch werden die Leichen der Insulaner, die auf dem Festland sterben, mit dem Schiff übers Meer im verschlossenen Sarg transportiert, um auf der Insel begraben zu werden.
Die Glocken von Chora läuten dann schon vor der Ankunft des Verstorbenen.

Lieber Carlino
Ich kann mir diese Tragiöde lebhaft vorstellen, zu Mal die Menschen früher viel empfänglicher für Zeichen und Wunder waren. Ob nun zum Guten wie auch im Bösen glaubten sie doch an Vorhersehbaren. Mir gefällt Deine Ballade sehr.

Herzlichst Ilona

Liebe Ilona,

in der Tat waren die Menschen in Zeiten, in denen man noch keine verlässlichen Komunikationsmittel hatte, noch viel stärker auf Vorzeichen angewiesen und allgemein glaubte man noch viel stärker an magische Zusammenhänge!

Lieber Thomas,

du hast teilweise recht mit deiner Kritik! Beim "insgeheim" sind beide Betonungen möglich, beim "hochzieht" allerdings nicht. Leider finde ich keine wirklich elegante Alternative.
Möglich wäre z.B.: "von fern er die Flagge auf Halbmast gleich sieht" was meint ihr?

Vielen Dank euch beiden und herzliche Grüße
Karlheinz

Lieber Karlheinz, das ist so traurig, um so schlimmer weil es wahr ist. Das Leben schreibt eben die größten Dramen und du hast eine schöne Ballade daraus gemacht.

LG Heike

Lieber Karlheinz,
ein tolles Thema für eine gelungene Ballade, die allerdings ihre Schwächen hat. Beim lauten Lesen hüpfe ich nämlich zusätzlich zu den bereits kritisierten durch ein paar andere Verse. Beispiel:

Zitat

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Hoch oben im Dorfe die Glocke dumpf schlägt, xXxxXxxXxXX
als Jannis im Hof grad sein Brennholz zusägt. xXxxXxxXxXX

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Das sind zwei unschöne Hebungspralls (-prälle???). Nähmest du statt zusägt zersägt, hättest du eine simple, vor allem unbetonte Silbe. Beim dumpf schlägt ist es nicht ganz so einfach, denn Totenglocken klingen nun einmal dumpf. Wie wäre es mit anschlägt? Das trifft zwar nicht die Stimmung, aber wer aufmerksam liest, stell sich bei dem Geschehen gewiss keine fröhlichen Frühlingsglöckchen vor.
Lies noch mal drüber, du findest ganz sicher auch die anderen Hüpfer - ich muss mit meiner Schulter etwas "haushalten" .
Herzliche Grüße,
Heliane.

Liebe Heike,

Danke, dass du meine Ballade magst!

Liebe Heliane,

erst mal vielen Dank für deine Mühe! Die beiden Hebungsprobleme, die mir eigentlich bewusst waren, mich aber im Laufe der Entstehung immer weniger störten, habe ich in deinem Sinne geändert. An die übrigen Stellen muss ich noch mal ran!
Schönen Abend euch beiden noch und ganz herzliche Grüße aus Lüli
Karlheinz

Liebe Heliane, lieber Thomas,

Ich nochmal: in der 6. Strophe habe ich die letzte Zeile folgendermaßen verändert:

Statt
„und sieht, dass der Segler die Flagge hochzieht.“
schreibe ich jetzt:

„von fern er die Farbe der Flagge schon sieht:“

Was meint ihr? Kann man es jetzt so lassen?
Grüße aus Lüli
Karlheinz

Lieber Karlheinz,
deine Ballade beeindruckt mich. Zuerst dachte ich, sie sei etwas lang. Doch der langsame Aufbau trägt zur Steigerung des Inhaltes gegen Schluss sehr gut bei. Ich finde deine geänderte Stelle jetzt sehr flüssig im Daktylus lesbar. Klasse!
Liebe Grüße,
der Sanderling

Lieber Carlino,

Ich kam heute in Den Genuss mehrere Balladen zu lesen deine hat es mir besonders angetan.
Die story ist einfach gut sehr gut sogar.
Auch was am Rande erzählt wird das er am Grab seines Vaters vorbei kommt all das gibt eine super Atmosphäre ab.
Ich kann sie eigentlich ganz gut lesen so wie sie jetzt dasteht. Hab sie gerade jemandem laut vorgelesen und kam nur selten ins Stocken und beim nochmaligen Lesen konnte man das alles ausbügeln.

Wirklich gut gemacht würde ich sagen: Lob Lob Lob!

Derolli

Lieber Sanderling,

vielen Dank für deine Meinung und das Klasse!


Lieber Olli,

letztlich ist das laute Aufsagen der ultimative Test, um ein Gedicht zu beurteilen! Das mache ich viel zu selten mangels Publikum! Ich danke dir aber vor allem für dein Lob, das mich sehr erfreut!

Lieber Thomas,

der „Gedanke, der ihn insgeheim schockt“, war nicht das Wahre, das geb ich zu. Deine Version, die ich nun dankend übernehme, ist viel viel besser!

Nochmal vielen Dank euch Dreien und herzlich Grüße aus Lüli
Karlheinz