Fantastisches, Mystisches, Religi�ses

15.01.2018 06:09 (zuletzt bearbeitet: 15.01.2018 13:39)

Sündenfall

Bevor noch Keil und Stift Geschichte schrieben,
erblühte einst ein großes Reich.
Es ist verschwunden, doch die Sagen blieben.
Es galten alle Bürger gleich,
und nur ein väterlicher König schenkte
Vertrauen, Tatendurst und Kraft.
Er liebte alle Menschen und er lenkte
durch weisen Rat die Bürgerschaft.

Und als der König starb, da wurden seine
Gedärme in ein Fass gelegt.
Sie lebten ohne Körper ganz allein
von Zaubersäften angeregt.
Ein Priester gab nun täglich davon Kunde,
was sich im Eingeweide tat.
Das Volk erfuhr aus eingeweihten Munde
auch weiterhin des Königs Rat.

Der Staat gedieh und die Gesellschaft blühte
in einem Körper ohne Haupt,
durch Kräfte, die für alle Zeit die Güte
des Königs fördert und erlaubt.
Jedoch der Priester hat sich frech erhoben,
das Fass zerschlagen und verbrannt,
und mit Verweis auf Stimmen von ganz Oben,
sich selbst zum Oberhaupt ernannt.

Das Haupt bestimmte fortan kalt und einsam,
die Logik wurde zum Diktat,
Nicht handelten die Bürger mehr gemeinsam.
Befehl ersetzte guten Rat.
Der Priester wurde schon nach hundert Tagen
von Seinesgleichen umgebracht.
Das Reich zerfiel, und nur in alten Sagen
besteht des guten Königs Macht.

© Ralf Schauerhammer

P.S.: Angeregt wurde ich zu diesem Gedicht unter anderem durch einen Aufsatz von Manuchehr Jamali mit dem Titel: "Rostam und Sohrab: Die Idee vom Maß als gestaltende Kraft in der altiranischen Weltanschauung", worin folgendes geschrieben steht:

"In der Vorstellung der altiranischen Kultur ist ein Mensch in seinem dunkelsten verborgenen und tiefsten inneren Wesen in sich harmonisch und verfügt in diesem Sinne über ein inneres "Maß". Ein "Maß", so wie es im Bild des Gardune, des Ochsen- oder Pferdegespanns, verkörpert ist, wo ein sogenanntes Jugh das Gespann als Paar bindet�

Es genügt nicht zu predigen, zu verbieten oder mit Bestrafung oder Qualen in einer jenseitigen Welt zu drohen, um die aus dem Mangel an "Maß" resultierenden Probleme zu lösen, sondern das innerste Maß in einen einzelnen Menschen � d.h. das eigene Bewusstsein über die Wichtigkeit des inneren Abwägens � muss bei Menschen erweckt und individuell erlangt werden�

Mit der Konzentrierung der Gewalt über Gebote und Verbote in der Hand eines Regierenden, geht das "Maß" in der Gesellschaft verloren.

Gemäß der altiranischen politischen Kultur hatte das Volk das Recht, sich dem König oder dem Staat zu widersetzen, wenn diese nicht nach "Vernunft" (Kherad) und nicht gerecht handelten. Der ungerechte Staat besaß keine Legitimität.

Der ursprüngliche Glaube im alten Iran war, dass die Kharad, eine Vernunft, die sich keiner Gewalt oder List bedient, innerhalb des ganzen Körpers verteilt ist. Man sah die Kharad als das Resultat einer Harmonie des Körpers und nicht als auf den Kopf reduziert an.

Später verschwand diese Auffassung und man sah den Kopf als Zentrum des Geistes. Mit der Auffassung des Kopfes als dem Sitz des Geistes und als zentrales Körperorgan folgte unweigerlich auch die Ansicht, dass der Herrscher die Verkörperung des Kopfes und der Rationalität ist.

In seinem Buch "Das Denken beginnt mit dem Lachen" legt Manuchehr Jamali dar, wie mit dem Verschwinden dieser Auffassung auch das Konzept der harmonischen Einheit des maßvollen Menschen mit dem der göttlichen Schöpferkraft durch den Begriff der Ursünde, welche den Menschen von Gott entfernt, einhergeht. Das ist der Grund, warum ich als Titel "Sündenfall" gewählt habe.