"Ein Gedicht ist das Bild des Lebens in seiner ewigen Wahrheit. Zwischen einer Geschichte und einem Gedicht besteht folgender Unterschied: Eine Geschichte ist ein Verzeichnis von gesonderten Tatsachen, die durch nichts als Zeit, Ort, Umstände, Ursachen und Wirkungen miteinander verbunden sind. Ein Gedicht dagegen ist die Schöpfung von Handlungen gemäß den unwandelbaren Formen der menschlichen Natur, wie sie im Geist des Schöpfers existieren, der selbst das Abbild aller anderen Geister ist. Erstere ist begrenzt und anwendbar nur auf einen bestimmten Zeitraum und eine bestimmte Verknüpfung von Ereignissen, die niemals wieder geschehen können; letzteres ist allgemein und enthält in sich den Keim einer Beziehung zur gesamten möglichen Vielfalt von Motiven und Handlungen der menschlichen Natur. Die Zeit, die die Schönheit und Brauchbarkeit der Geschichte mit besonderen Tatsachen zerstört,… vermehrt die des Gedichts und bringt immer neue und wunderbare Anwendungsmöglichkeiten der in ihm enthaltenen ewigen Wahrheit hervor." Percy Bysshe Shelley – Verteidigung der Poesie – Übersetzung: Manfred Wojcik – Ausgewählte Werke, Insel-Verlag 1985.
Im Original: "A poem is the very image of life expressed in its eternal truth. There is this difference between a story and a poem, that a story is a catalogue of detached facts, which have no other connexion than time, place, circumstance, cause and effect; the other is the creation of actions according to the unchangeable forms of human nature, as existing in the mind of the Creator, which is itself the image of all other minds. The one is partial, and applies only to a definite period of time, and a certain combination of events which can never again recur; the other is universal, and contains within itself the germ of a relation to whatever motives or actions have place in the possible varieties of human nature. Time, which destroys the beauty and the use of the story of particular facts, stripped of the poetry which should invest them, augments that of poetry, and for ever develops new and wonderful applications of the eternal truth which it contains." Percy Bysshe Shelley - A Defense of Poetry
hmm?! Ob das wohl seiner Frau gefallen hat, die war ja eher eine Erzählerin und Märchentante, wirklich eine außergewöhnliche Stellungnahme für einen Atheist, der er ja bekennender Weise gewesen sein soll.
schön, dass wir hier in diesem Faden über diese Frage nachdenken können - was ist ein Gedicht . Ich möchte dem Gesagten noch etwas hinzufügen, allerdings eigentlich mit der Frage Was bedeutet schreiben ? und zitiere die Lyrikerin Hilde Domin aus ihrer Vorlesungsreihe " das Gedicht als Ausdruck von Freiheit " :
Warum ich schreibe ? Das war nicht vorgesehen. Ich hatte mir nichts vorgenommen , es passierte, wie wenn einer überfahren wird. Oder wie die Liebe. Man handelt nicht , es passiert. Ich hatte das Gedicht sofort abgetippt, sofort nach dem Aufstehen. Noch am gleichen Tag übersetzte ich es ins Spanische. Nur so. Ohne andere Absicht, als um es auszuprobieren, um zu sehen, ob der Text standhielt. Wie man ein Gewebe prüft, wie es von der anderen Seite ist. Es war plötzlich da, ich wollte sehen, was mit ihm los war. "
( aus : Hilde Domin, Das Gedicht als Augenblick von Freiheit, Serie Piper, Oktober 1988, S.43/44 )
Ich wollte damit zeigen, dass es bei der Entstehung von Gedicht nicht primär um den Focus des Lesers geht, sondern um unser Innenleben und der Verdichtung desselben ..
Und .. interessant fände ich es , wenn sich weitere Texte zu dem Thema dazugesellen würden.
Inhaltlich kann ich dem zustimmen, was Hilde Domin da beschreibt. Ich habe (nicht nur beim Dichten) manchmal das Gefühl "Es" denkt, als wäre ich das gar nicht, weil es recht unabhängig von meinen Willensentscheidungen abläuft (insbesondere wenn ich Migräne habe oder bekomme). Damit will ich nicht die Verantwortung für meine Gedanken ablehnen, aber "es passiert", und "es ist plötzlich da" wie Hilde Domin sagt.
Aber Hilde Domin schreibt hier eigentlich nichts zu der Frage "Was ist ein Gedicht" sondern über die Frage "Wie dichte ich?" Das ist ein sehr interessantes Thema, und ich würde Vorschlagen, ein Thema "Dichter über das Dichten" im Forum aufzunehmen. Da könnte man auch entsprechende Zitate anderer Dichter sammeln, weil solche Aussagen von Dichtern als Spiegel für das eigene Tun sicher sehr hilfreich sind. Dort könnte man dann auch Zitate von E. A. Poe (Philosophy of Composition), Schiller, Goethe und anderen Dichtern einstellen.
An dem Zitat von Shelley finde ich folgendes besonders wichtig. Er schreibt den Aufsatz als Antwort auf einen Artikel von Peacock, welcher der Rolle der Poesie im aufkommenden Zeitalter des Nützlichkeitsdenkens als Nebensächlich beschreibt. In der Tat scheinen sich heute damit die meisten Dichter abgefunden zu haben. Ich frage mich aber, brauchen wir nicht gerade heute eine Neubesinnung auf den Dichter des Kalibers, den Shelley beschreibt, auf Dichter, welche "die nicht anerkannten Gesetzgeber der Welt sind" – mit diese Worten endet Shelley den Aufsatz.
Das ist natürlich ein hoher Anspruch, dem ich wohl nicht gerecht werden kann, aber vielleicht ist diese "idealistsiche Spinnerei" heute notwendiger denn je? Ich jedenfalls habe hier behauptet, dass es so ist.
der Unterscheidung zwischen Lyrik und Prosa, so wie sie Percy Bysshe Shelley in der von Dir zitierten Stelle traf, kann ich nicht zustimmen. Beide - Lyrik und Prosa - haben einen Anker in Raum und Zeit und werden von den bestehenden gesellschaftlichen Umstände wesentlich mitgeprägt. Und beide nehmen in der Regel auch ein "zeit- und raumloses" Element in Anspruch, mal mehr - mal weniger. Das trifft m.E. sogar auf historische Romane zu. Wenn ich Zolas Romane lese, habe ich das Gefühl, sie wären gerade eben entstanden. Umgekehrt widmeten sich viele bekannte Gedichte auch sehr konkretem Zeitgeschehen. Da erinnere ich nur an die vielen Heldengedichte und die über besondere Ereignisse (z.B. Fontanes "Die Brück’ am Tay". Ich denke, was Percy Bysshe Shelley als Kriterium für Gedichte und als Daseinsberechtigung für diese nennt, ist so nicht richtig. Ist es nicht viel mehr der suggestive Charakter der Gedichte, der sicherlich damit zu tun hat, dass dort Gefühlen und Stimmungen mehr Raum gegeben wird, mit der Absicht, diese auch beim Leser bzw. Zuhörer zu implantieren? Sie bohren sich tiefer in das "Unterbewußtsein" des Rezipienten ein. Man bedenke, wieviele Worte mehr die Prosa verwendet, doch welche Zitate am häufigsten in unseren Köpfen umherschwirren. Die meisten stammen aus der Lyrik, entwickelten sich zu "geflügelten Worten". Allen guten Gedichten ist m.M.n. ein geschicktes Kreisen eigen, sei es durch Reime, durch die Metrik oder durch wiederkehrende Wortketten. Es kann sogar ohne die eben genannten Elemente funktionieren, wenn man inhaltliche Elemente (Bilder) kreisen lässt. Im Übrigen wurde die Lyrik aus genau diesen Gründen auch oft benutzt (missbraucht), so sieht man wohl die Entwicklung der Reime im engen Zusammenhang mit der Verbreitung der christlichen Religion. Gereimte Himmels- und Lebensweisheiten ließen sich einfacher verbreiten, da sie leichter im Gedächtnis haften blieben.
nochmals darüber nachdenkend, weiß ich warum ich mit dem Zitat von Shelley nicht übereinstimmen will. Ich werte Geschichten (natürlich nicht einfach alltägliche Prosa, sondern durchdachte Anekdoten und Erzählungen, Kurzgeschichten und vor allem Märchen) viel höher, und denke dass diese selbst wenn sie sich auf aktuelles beziehen nicht ihren Wert verlieren, zumindest nicht mehr als Gedichte, denen das selbe Schicksal droht. Vielleicht werden tiefsinnige Gedichte sogar garnicht erst erfasst und können daher ihre erhabene Weisheit garnicht mitteilen, oder nur wenigen Verständigen und Sinnierern. Da frag ich mich was ist wirklich besser?
Es liegt aber schon was wahres in seinen Worten, wenn man einen Text (egal ob Geschichte oder Gedicht) wirklich ergründet, dann kann das eine äußerst Prägende Erfahrung sein, bei der das Gedicht vielleicht die besseren Chancen auf eine korrekte Replikation seitens des Lesers hat.
das Zitat ist nur ein kleiner Ausschnitt aus Shelleys Aufsatz. Ich glaube es geht ihm nicht um eine Wertung (wass höher zu schätzen sei), sonderen er versucht zu Charakterisieren, was der Unterschied von Prosa und Lyrik ist. Das ist es, was wie beide daran interessant finden.
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17.02.2015 08:21 (zuletzt bearbeitet: 22.02.2015 11:11)
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aber vielleicht ist diese "idealistsiche Spinnerei" heute notwendiger denn je? Ich jedenfalls habe 
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