Lieber Thomas,

in der Musik ist das wahrscheinlich so, weil der Text und auch die Musik oft garnicht aus der Feder der Interpreten stammt. Gedichte werden selten gecovert. Allerdings distanzieren sich auch Musiker manchmal vom Inhalt ihrer Lieder. Vor dem Song "Nymphomanic Fantasies" von Nightwish, sagt die Sängerin zum Beispiel "The scent of a woman was not mine" bevor sie im Liedtext beschreibt was die Frau dann alles tut und zwar in der Ichperspektive. Es gibt bestimmt noch bessere Beispiele. Manchmal begegnet uns auch ein Songtext, von dem die Interpreten dann behaupten, dass alles sei doch Ironie - das ist so ähnlich wie alles dem LI in die Schuhe zu schieben.
Ich weiß nicht wie es dir geht, aber ich habe schon oft Gedichte geschrieben, die ich nur um der Technik, der Kunst oder der Idee wegen zu Papier gebracht habe. Die Personen darin sind nicht mit mir verbunden, jedenfalls nicht in einer Weise dir mir bewußt wären, nicht einmal wenn das Gedicht durchwg in der ersten Person Singular gehalten ist.

Aber ich gebe dir völlig recht damit - das LI vorzuschieben ist immer ziemlich unnötig - entweder steht man zu dem was man so von sich gibt, oder man lässt es besser bleiben.

Liebe Grüße

Derolli

Lieber Thomas,
witzig, was du hier zur Diskussion stellst!
In Kommentaren habe ich mich schon öfter aufs lyrische Ich berufen, um dem Autor nicht auf den Schlips zu treten, dahinter stand ich nie!
Formen kannst du erlernen; deine Träume, Ansichten, Sehnsüchte, Ängste jedoch nicht und sie werden in jedem Gedicht widerhallen.
Jedes Gedicht trägt den Stempel des Autors und wer sich hinter dem lyrischen Ich versteckt, geht weder mit seinem Werk noch mit seinem Ich ehrlich um.
Ich stimme dir in allen Punkten zu .
Herzliche Grüße,
Heliane.

lieber Thomas
ich gebe Dir Recht, wenn Du nicht zwischen Dichterwort und lyrischem Ich trennst. Da sind wir uns einig. Jeder Texter sollte nur schreiben was seinem Innersten entspricht.
Über diesen Satz allerdings würde ich gerne noch weiter diskutieren:

Zitat

---

Denn der Inhalt ist in der Poesie Nebensache,

---

Wenn Du "Inhalt" mit "Bedeutung für den Leser" gleichsetzt, dann sage ich die Bedeutung, der wahrgenommene Sinn der sich dem Leser aus dem Gedicht erschließt darf nicht Nebensache sein. Dann wäre das Gedicht von Morgenstern z.B. "das große Lalalu" genauso hoch zu bewerten wie Goethes "Faust" oder Brechts "An die Nachgeborenen".
Macht nicht die Vollendung der Ausdrucksgewalt oder sagen wir der Schönheit der Sprache jedes Gedicht erst zum vollendeten Gedicht?
Presste ich nach metrischen Normen Worte in eine dichterische Ordnung ergibt es einen angenehmen Klang, aber es fehlte wie bei Morgenterns "Lalalu" die Sprachdimention, der geistige Inhalt.

herzlich Ilona

lieber Thomas,
kannst Du mir erklären warum mir Dein Gedicht, Der Prediger von Buchenwald
so viel näher gegangen ist und anhaltender in mir gewirkt hat als meinetwegen "der Zauberlehrling" von Goethe?

Gibt es nicht soetwas wie Empathie zum Inhalt eines Werkes, oder warum berührt uns beim Hören einer Todesnachricht die Pflanze anders als das Kind?
Ich verstehe nicht warum Du jeglichen sprachlichen Inhalt gleich setzt, oder als nebensächlich einstufen willst.

liebe Grüße
Ilona

lieber Thomas,

Zitat

---

Verstehst du, was ich sagen will, der Inhalt ist schon wichtig, aber er wird von etwas Wesentlicherem Bestimmt. Darum geht es mir.

---

dann sind wir uns einig.

herzlich Ilona

Ihr Lieben,

Ich habe eure Diskussion mit großem Interesse verfolgt. Genau wie Thomas bin ich der Meinung , dass es mehrere Ebenen über den vordergründigen Inhalt hinaus gibt, die uns bei einem Gedicht ansprechen.

( Klang, Rhythmus, auch manchmal die Präsentation der Zeilen in einer ungewöhnlichen Form)

Wichtig finde ich, dass nicht ein Krterium über ein anderes gestellt wird, so dass eine Wertung entsteht . Gedichte berühren vielschichtig und öffnen neue innere Räume, davon bin ich zutiefst überzeugt.

Alles liebe

Anna

Hi Leuts,

also um nochemol uff des LI, zu spreche zu komme: Nehmt mal den Fall an, dass ein Autor tatsächlich über eine andere Person schreibt, wie zum Beispiel:

"Ich bin der Bär
groß und schwer,
aber du Schmetterling
bist ein winzig Ding."

"Mein Nam ist lang,
drum ist mir nicht bang,
denn deiner ist kurz,
drum bist du mir schnurz."

(leider weiß ich nicht von wem das Gedicht ist, es kommt aus einer Kinderfibel)

Dann haben wir hier zwei LI's und der einzige Bezug zum Autor ist, dass er beobachtet hat, dass ein Bär schwer und groß ist / dies auf den Menschen überträgt und ihm als Arroganz auslegt / das der Schmetterling einen längeren hat, also Namen natürlich und ihm dieses als Underdogstolzeinheit zuordnet.

Wenn nun der Autor mit Recht schreiben würde, er sieht selbst nix von sich in den LI's, sondern es ist die Beobachtung die seine persönlichen Gedanken wiedergeben, dann würde ich ihm das abnehmen. Wenn es darum geht, dass in dem Gedicht dennoch etwas persönliches vom Autor steckt, dann ist das ja nur logisch und das gilt für alles was man im künstlerischen Sinne schreibt. Selbst eine Autobiographie über Stalin, wäre wohl nicht ohne subjektive Einflüsse des Autors vorzustellen.

Gibt es also ein LI - ja! Es kann völlig vom Autor gelöst sein, da das Gedicht und dessen Kunst, nämlich nicht umbedingt an der Person im Gedicht festzumachen ist. Das beste Beispiel, stammt von einem Autor Namens Thomas - er hat ein exzellentes Werk Namens "der philosophierende Bauer" kreiert. Ein monumentales, fabelhaftes, geniales, in jedem Belang erstklassisches Werk. Der Bauer und das Schachspiel als Methoper für die Willkür des Lebens - ist Thomas der Bauer?! Zum Teil bestimmt, aber er ist auch das Schachspiel, mit dem er sich auseinander gesetzt hat, er ist die Lebenserfahrung die aus den Zeilen spricht, verflixt und zugenäht er ist eben der Erfinder dieser fantastischen Geschichte, deren Vielschichtigkeit ich noch garnicht völlig erfasst habe.

Vertecken sich manche Autoren hinter dem LI - klar, das tun sie, vor allem, wenn sie Tabus brechen, aber deswegen ist das LI dennoch nicht mit dem Autor gleichzusetzen, man muss da wohl so einen Mittelweg finden - so wie der Bauer das auch geschafft hat - "mal Schlägt man und mal wird man geschlagen" (frei zitiert).

Liebe Grüße - coole Diskussion

Derolli

Hallo zusammen,

eigentlich wollte ich mich darüber auslassen, dass ich eine Gegnerin des "lyrischen-Ich-Versteckspiels" bin und meine Einstellung klug begründen .
Nun ist mir grad passiert, dass ich ein etwas älteres, überarbeitetes Gedicht eingestellt habe (Gespielinnen), mit dessen Aussage ich mich nicht identifiziere. Ich habe zwar versucht, mich in den Säufer hinein zu versetzen, seine Lust zu formulieren, aber ich bins nicht.
Was nun? Käme jemand daher und würde mich als Säuferin bezeichnen, weil das lyrische Ich für die Werke und ihre Autoren völlig unsinnig und einzig das reale Ich dafür verantwortlich ist, müsste ich heftig nach Luft schnappen !

Mir erscheinen die Argumente gegen das lyrische Ich nachvollziehbar und logisch. In meinem aktuellen Fall komme ich ins Schleudern. Mein Gedicht zeigt zwar meinen Stil und meine Beobachtungen zum Thema, aber ich bin in eine Person geschlüpft, mit der ich nichts gemein habe, ins lyrische Ich, oder?

Ich bin sehr gespannt auf eure Antworten .
Herzliche Grüße,
Heliane.

lieber Thomas
in den wenigsten Fällen kenne ich den Dichter. Oft hat er sich sogar einen Dichternamen zugelegt. Schreibt er wie ein Trunkenbold und heißt Medusa soll ich dann "die Medusa für eine Trinkerin halten?
Beispiel: Marihuana von Buttenländer; ... Marihuana bist göttlich, ich steige mit dir in den Himmel!
-----------„Drogenmissbrauch, gefährliches Zeug!“ Zerreißende Lüge!
-------------Mary Jane, du Geile, doch leider verbotenes Mittel?! ....
ist dieser nette Kollege ein Junky?
.......................
Jörg Kellermann, der Name des Dichters ist bekannt.
Er schreibt,
teuflisch
ein Gehörnter

sich an mir
(v)erging

im süßen Schmerz

__er-

____starb

________ich

genüsslich sanft
auf meine Weise
-----------------------
nun haben wir einen lebenden toten Dicher. Hat er diesen süßen Tod wirklich erlebt?

lieben Gruß
Ilona

lieber Thomas,
so einfach finde ich das nicht als Leser.
bei Medusas Trunkeboldgedicht ist meiner Meinng nach schon durch den zweideutigen Titel klar, dass Autor=Säufer nicht stimmt,
jeder richtige Säufer (bleiben wir mal bei dem Audruck) wird sich nie als Säufer titolieren. Warum sollte er seine allesgeliebten Flaschen nicht als Gespielinnen bezeichnen.
Im Gegenteil, ich könnte Dir aus dem Netzt in einigen Minuten 10 Beispiele dafür raussuchen.
Bei Buttenländers "Marihuana" deute ich das Spiel mit der Schrift dahingehend, das nicht der Autor selbst spricht (obwohl das Dinge verdammt realistisch gemacht ist)
auch da sehe ich es anders, die Schrift und das finde ich fabelhaft gelöst, spricht gerade davon, dass der Autor sich in einer "spielerischen Welt" befindet. Schade das er nicht nur eine spielerische Schriftart genommen hat, ich könnte sie mir auch noch regenfarbenbunt vorstellen.

lieben Gruß Ilona

Hallozusammen,
habichnundenStempelwegodernicht
Lallende Grüße,
Heliane.

Lieber Thomas,

vor einiger Zeit schrieb ich mal:

Krankenlager

Bitte sterbe nicht mein Kind,
bitte stirb noch nicht.
Während deine Zeit verinnt,
meine Welt zerbricht.

Mach die Augen zu und geh,
schließ die Augen fest.
Morgen werden wir uns sehn,
wenn Er mich nur läßt.

Ist das LI in disem Fall ich selbst? Es ist ja keine Erzählung in dem Sinne, dass ich da eine Geschichte erzählen würde.
Was denkst du wieviel von dem LI steckt in mir?

Wäre mal interessant zu wissen, was du dir von diesem Gedicht aus über meine Person ableiten kannst.

Liebe Grüße

Derolli

Beim Lesen von Gedichten und Geschichten ist mir egal ob der Schreiber seine Selbsterfahrung oder etwas Erdachtes wiedergibt. Es muss für mich plausibel und authentisch sein.
Wenn er es schafft so zu schreiben als ist es seine Erfahrungswelt kommt der Text bei mir an.
Oft schreibe ich auch in der "Ich-Form" um die Distanz aufzuheben.
Ich denke das Berufen auf das lyrische Ich ist ein zweischneidiges Schwert. Vor einigen Jahren las ich in der Presse, ein Autor schrieb eine Geschichte über einen Pädophilen so, als wäre er der Jenige. Nach der Veröffentlichung wurde seine Wohnung durchsucht und sein PC von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt. Man fand nichts, der Autor erklärte, er hat sich nur in die Haut des Pädophilen begeben.
Ich denke, sicher ist es sein Recht als Schreiber. Aber er muss dann auch mit den Konsequenzen rechnen.
Jeder der Schmähschriften schreibt, der das Naziregime verherrlicht, …. könnte sich auf sein lyrisches Ich berufen.
Anderseits was ist authentisch? Wikipedia sagt dazu: „ Authentizität bezeichnet eine kritische Qualität von Wahrnehmungsinhalten (Gegenständen oder Menschen, Ereignissen oder menschliches Handeln), die den Gegensatz von Schein und Sein als Möglichkeit zu Täuschung und Fälschung voraussetzt. Als authentisch gilt ein solcher Inhalt, wenn beide Aspekte der Wahrnehmung, unmittelbarer Schein und eigentliches Sein, in Übereinstimmung befunden werden.“

Ergo, wir müssen von unserer inneren Vorstellungswelt schreiben als wäre sie unser Erleben. Aber wir müssen sie selbst auch kritisch hinterfragen und sie vom Leser hinterfragen lassen.

lieben Gruß
Ilona

lieber Thomas,
ich kenne das in einem anderen Kontex auch aus einem Forum. Da schreibt ein Texter eine Geschichte in der er auf brutale Weise Nazis umbringt. Da hatte ich mir erlaubt zu schreiben. Die Jenigen, die so denken sind auch nichts anderes als Mörder. Das wurde mit schriftstellerischer Freiheit abgetan.
Ich denke schon, ich darf in andere Rollen hinein schlüpfen sofern ich nicht Ethik und Moral verletze.
So lange ich diese Grenze ziehe ist auch das lyrische Ich ein wertvolles Mittel der Kunst.

Lieben Gruß
Ilona

Lieber Thomas,

ich knabbere also immer noch an einer exzellent gestellten Frage: Wo ist es tatsächlich sinnvoll, das LI vorzuschieben?

Du hast recht - es ist eigentlich sinnlos.

Ich habe mir jetzt mal vorgenommen, diesen Begriff nicht mehr so inflationär zu gebrauchen.

Liebe Grüßle

Derolli

Übrigens: Das oben angeführte Gedicht von mir ist einfach nur aus der Idee entstanden, das Lied "Rohr im Wind" weiterzuführen - manchmal ist es auch der Text und die Idee, die sich selbst weiterspinnen und so schreibe ich die meisten meiner Gedichte. Am Anfang steht die Idee, oder die Aufgabe - der Rest findet sich zusammen, doch du hast Recht irgendetwas persönliches bleibt darin haften. Bachbezeichnete sich selbst als Handwerker - Beethoven sich als Künstler. Auch mir geht es so, dass mich manchmal die Vorgabe (Silbenzahl, Hebungen, Senkugen und Reime) leitet, aber nie ausschließlich. Genauso kann man nie etwas wirklich objektiv betrachten, die Bildung, Erfahrung usw. beeinflussen uns immer. Die Wahrheit liegt also wie immer irgendwo dazwischen.

Hi Leutz,

beim erneuten Lesen dieser Diskussion ist mir aufgefallen, dass wir garnicht über folgenden aufgeworfenen Punkt geredet haben:

Zitat

---

Ich überlasse das Gerede vom Lyrischen Ich denen, die gerne Symbole mit wirklichen Metaphern verwechseln, d.h. keine Ahnung von Poesie haben, denen, die Gerne über Inhalte sprechen, und Angst haben, dem Dichter zu nahe zu treten.

---

Das bedeutet doch in etwas, dass jemand der den Begriff LI verwendet - keine Ahnung von Poesie hat - das ist eine gewagte These und außerdem eine der ich auch noch zustimmen muss, denn wer den Begriff gebraucht der drückkt sich eigentlich sehr umständlich und distanziert aus - wie in einem Schulaufsatz.

Liebe Grüße

Derolli